UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
 

Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29 Dezember 1996)

 


 

DRITTES KAPITEL:

"SINNLICHE WAHRNEHMUNG" ALS MEDIUM SYSTEMISCHER AUSDIFFERENZIERUNG UND INTEGRATION

 

3.1 Einleitung

Über alle unzweifelhaften Unterschiede ihrer inneren Strukturdifferenzierungen und Prozessabläufe sowie ihrer externen Abgrenzungen und Umweltbeziehungen hinweg haben die auf der Basis von Kollokalität begründeten Sozialsysteme die Gemeinsamkeit, dass sich die wechselseitigen Beziehungen der Interaktionspartner (wie auch ihre Beziehungen zur gemeinsamen Umwelt) zumindest zu einem guten Anteil über das Medium sinnlicher Wahrnehmung konstituieren.

Im Kontrast etwa zu internalisierten Werten und Normen, kulturellen Traditionen, Referenzgruppenbeziehungen, arbeitsteiligen Interdependenzen, Autoritätsverhältnissen und andern auch über räumliche Distanzen hinweg wirksamen sozialen Bindekräften lassen sich Wahrnehmungsprozesse durch die folgende Konstellation funktionaler Eigenschaften charakterisieren:

  1. Sie sind allen Individuen allein auf Grund ihrer biologischen Ausstattung in derselben Weise zugänglich, bzw. variieren auf Grund physiologischer Gegebenheiten (Sehschwäche, Taubheit u.a.), die sich der individuellen oder sozialen Manipulierbarkeit im allgemeinen entziehen.
  2. Sie konstituieren einen unaufhebbaren Polyzentrismus: weil jedes Individuum eine eigene Wahrnehmungsperspektive aufrechterhält und seine Perzeptionen mit Hilfe seiner je eigenen Vorerfahrungen und Deutungsmustern organisiert.
  3. Sie privilegieren das Aktuell-Gegebene gegenüber dem Vergangenen oder Zukünftigen, das Positiv-Faktische gegenüber dem bloss Möglichen oder Virtuellen, das Prägnant-Gestalthafte gegenüber dem Diffus-Unkonturierten, und das Überraschend-Neuartige, das die Aufmerksamkeit fesselt, gegenüber dem Gewohnt-Selbstverständlichen.
  4. Sie erzwingen ein "Primat des Kognitiven": in dem Sinne, dass die Teilnahme am Interaktionsfeld eine permanente Lern- und Anpassungsbereitschaft gegenüber den Ausdruckskundgaben und Verhaltensweisen Anderer erfordert (während rein kontrafaktische, normativ-manipulative Orientierungen in den Hintergrund treten).
  5. Sie sorgen dafür, dass sich die ganze Vielfalt taktiler, akustischer, visueller und olfaktorischer Erlebnisqualitäten, die dem Menschen für seine empirische Welterfahrung schlechthin zur Verfügung stehen, auch auf sozialer Ebene wiederfindet: so dass kollokale Individuen immer über eine Mehrzahl teils substitutiver, vor allem aber komplementärer Emissions- und Empfangskanäle verfügen, um miteinander in Wechselwirkung und kommunikative Beziehungen zu treten.
In idealtypischer Reinheit sind die Prinzipien wahrnehmungsgesteuerter sozialer Systembildung höchstens in jenen ephemeren Interaktionsverhältnissen annäherungsweise verwirklicht, die - wie z.B. zufällige Begegnungen in Verkehrsmitteln, Verkaufsläden u.a. - zufällig entstanden sind und die räumliche Trennung ihrer Teilnehmer nicht überleben. In allen andern Fällen wird ihre dominante Bedeutung dadurch eingeschränkt, dass bereits eine alokal stabilisierte Beziehungsebene (z.B. auf der Basis von Verwandtschaft, Bekanntschaft, Freundschaft, ethnischer oder ständischer Zusammengehörigkeit u.a.) besteht, mit der sie in komplizierte, teils komplementäre und teils konfliktive Interdependenzverhältnisse treten.

Ohne Anspruch auf systematische Vollständigkeit wird im folgenden an einigen exemplarischen Mechanismen aufgezeigt, auf welch mannigfaltige Weise kollokale Sozialverhältnisse durch sinnliche Wahrnehmungsprozesse mitkonstituiert und mitgestaltet werden: und wie umfangreich andererseits genau dadurch auch ihre Gemeinsamkeiten sind, durch die sie sich von allen trans- und alokalen Systembildungen unterscheiden.


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