UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29 Dezember 1996)

 



DRITTES KAPITEL:

"SINNLICHE WAHRNEHMUNG" ALS MEDIUM SYSTEMISCHER AUSDIFFERENZIERUNG UND INTEGRATION

 

3.4 Aktualer Kontextbezug und kommunikative Einbettung allen individuellen Handelns

Als räumlich isoliertes, unbeobachtetes Individuum kann ich mein Handeln autonomer bestimmen, weil ich keine Rücksicht darauf nehmen muss, wie meine Verhaltensweisen von (bestimmten oder unbestimmten) Anderen wahrgenommen und gedeutet werden, und welchen persönlichen Eindruck (hinsichtlich meiner Charaktermerkmale, Motivationen, Qualifikationen u.a.) ich dadurch bei ihnen evoziere.

Der einsame Briefeschreiber kann stundenlang über denselben Sätzen brüten, ohne dem Adressaten oder jemand anderem seine Unsicherheiten und Ausdruckshemmungen zu verraten; der selbständige Handwerker kann seinen ganz partikulären Arbeitsstil kultivieren, ohne von tayloristischen Vorgesetzten nach Normen der Effizienz und Speditivität beurteilt und sanktioniert zu werden; und die weltweite wissenschaftliche Öffentlichkeit fragt nicht danach, auf welchen verschlungenen Umwegen der Forscher schliesslich zu seiner beeindruckenden Entdeckung gelangte.

Weil sie nicht gleichzeitig auch noch unter dem Gesichtspunkt ihrer symbolischen Ausdruckskonnotationen und kommunikativen Aussenwirkungen spezifiziert werden müssen, lassen sich unbeobachtete Handlungen umso stringenter nach verschiedenen anderen Kriterien organisieren. z.B. im Hinblick darauf, dass sie zweckrationale Teilschritte in einem grösseren Handlungsentwurf bilden, logische Konsistenz aufweisen, gewissen Präzedenzen und Traditionen entsprechen, oder dass sie die Fähigkeiten und Motivationen des handelnden Subjekts möglichst "authentisch" zum Ausdruck bringen.

Vor allem werden in der Zuordnung von Mitteln zu Zwecken zusätzliche, für Zwecke der Exploration und Innovation nutzbare Freiheitsräume eröffnet: weil man ohne Sanktionsdrohungen auch völlig neuartige, ungewohnte Vorgehensweisen wählen kann und fatale Irrwege höchstens das Selbstwertgefühl, nicht aber die Art, wie man von anderen beurteilt wird, affizieren.

Neben Einzelindividuen können auch soziale Mikrosysteme von diesen gesteigerten Ausdifferenzierungsmöglichkeiten des Handelns profitieren: ganz besonders in der modernen bürgerlichen Gesellschaft, wo die Privatisierung intimer Verhaltensweisen z.B. eine in traditionellen Kontexten undenkbare Variabilität von intrafamiliären Verhaltenssubkulturen, Sexualpraktiken u.a. ermöglicht.

Der Wegfall sozialer Regelkreise (durch die Wahrnehmung und Reaktion unmittelbar ko-präsenter Partner oder Beobachter) bringt generell die Gefahr einer "Unterdeterminierung" des Verhaltens mit sich, die durch verstärkte Heranziehung alternativer Orientierungshilfen beseitigt werden muss. Dabei kommen in Frage

  1. selbstreferentielle Steuerungen: indem der Akteur durch Intensivierung seiner Selbstwahrnehmungen und Selbstbeurteilungen sowie durch verstärkte Orientierung an verinnerlichten normativen Massstäben einen grösseren Anteil der Selektivität in Eigenregie übernimmt (vgl. Geser 1983: 43f.).
  2. kulturelle Steuerungen: indem der Akteur sich kompromissloser auf jene Regelsysteme, Werte und Zielsetzungen ausrichtet, die (wie z.B. Logik, Zweckrationalität, Universalismus, Humanität u.a.) unabhängig von partikulären Sozialkontexten Geltung haben.
  3. mikrosoziale Steuerungen: indem ein kleineres (häufig nur dyadisches) soziales Interaktionsverhältnis die Verhaltensspezifikationen generiert und stabilisiert, die sonst von umfassenderen Kollokalsystemen getragen werden müssten.
Zudem trägt das Fehlen gegenwärtiger vom augenblicklichen Handlungskontext erzeugter Steuerungen dazu bei, dass einerseits Orientierungen an Vergangenem (Erinnerungen, Präzedenzen u.a.) und andererseits an Zukünftigem (z.B. an angestrebten Zielen, antizipierten Reaktionen anderer u.a.) Bedeutung gewinnen.

Vor allem aber können Akteuren in räumlich isolierten Handlungssituationen stärker disponiert sein, ihr Verhalten in translokale und alokale Sozialreferenzen einzubetten: z.B. indem sie sich beim Verfassen eines Briefes ausschliesslich vom Gedanken an den ihn lesenden Adressaten leiten lassen, sich beim Kochen völlig auf die schriftlich explizierten Anweisungen des Rezeptbuches verwiesen sehen oder nur in dem Masse, wie sie an die Legitimität der formalrechtlichen Regeln glauben, auf verbotene Handlungen verzichten.

Als methodologische Implikation ergibt sich, dass "positivistische", an objektiven Verhaltensabläufen festmachende Analysestrategien bei alokalen und translokalen Sozialverhältnissen auf besonders enge Grenzen stossen. weil sich die bewegenden Ursachen und situativen Randbedingungen einer Handlung praktisch nie auf derselben Beobachtungsebene wie diese Handlung selbst befinden. Man sieht dem einsamen Waldläufer nicht an, ob er sich für seinen anstrengenden Beruf, seine Stürmerrolle im lokalen Fussballklub, aus präventivmedizinischen Erwägungen oder "einfach so" fit halten möchte; und wer in seinem Büro Dokumente unterschreibt, kann mittels derselben Fingerbewegungen ebensogut Kaufverträge wie Stellenentlassungen oder Todesurteile besiegeln.

Und unerlässlich ist in allen Fällen die genaue Kenntnis sinnlich nicht wahrnehmbarer, aus zeitlicher oder räumlicher Distanz in die aktuelle Situation hineinwirkender Bestimmungsfaktoren sowie des "subjektiv gemeinten Sinns", über den uns der Handelnde in eigenem Ermessen (verbale) Auskunft geben muss. In jedem Fall gibt es Entfaltungsspielraum für einen vom Akteur autonom konzipierten "Sinnhorizont", mittels dem er sein konkretes Handeln auf eigenselektive Weise auf einen spezifischen Situationskontext bezieht.

Auch im kollokalen Verhältnis ist es häufig so, dass sich jeder Handelnde an selbstgewählten, vom zeitlich-räumlichen Nahfeld unabhängigen, Situationsdefinitionen und Referenzkriterien orientiert: z.B. wenn mehrere Sachbearbeiter im selben Büro ihre getrennte Arbeit tun, stumm nebeneinandersitzende Eisenbahnpassagiere in Gedanken ihren je eigenen geographischen Zielen zustreben oder Verhandlungspartner am grünen Tisch die Interessenstandpunkte des sie mandatierenden Verbandes artikulieren.

Aber all diese Handlungen sind immer auch noch in ein quer dazu verlaufendes, durch aktuelle kollokale Wechselwirkungen konstituiertes Referenzfeld einbezogen, dessen Eigenständigkeit sich darin zeigt, dass es den Charakter fast völliger Unausweichlichkeit besitzt und imstande ist, alle übrigen Strukturierungskriterien zu überlagern und teilweise zu neutralisieren.

Dieses immer auf das Hier und Jetzt bezogene soziale Einflussfeld gewinnt seine Dauer und Breitenwirkung aus der Tatsache, dass die Beteiligten ununterbrochen in der Lage und meist auch disponiert sind, die äusseren Verhaltensmanifestationen der jeweils anderen wahrzunehmen, sie als Ausdruckskundgaben zu deuten und Schlussfolgerungen über die sich in ihnen manifestierenden subjektiven Absichten und Gefühlsstimmungen oder persönlichen Charaktereigenschaften, und Fähigkeiten anzuknüpfen. So sehen sich kollokale Akteuren häufig einer Konstellation überdeterminierter, miteinander konfliktiv konkurrierender Orientierungskriterien und Erwartungen gegenüber. weil sie zusätzlich immer auch die kommunikativen Konnotationen ihres Verhaltens für Andere in Rechnung ziehen müssen. Und je heterogener diese "Anderen" sind und je weniger man ihr Urteil kennt, desto höher das Risiko, bei irgendeinem Verhalten unintendierte und ungewünschte Kundgaben über sich selbst auszustreuen.

Kann der einsame Handwerker ungestört nur seine Regeln der Kunst und seinen persönlichen Rhythmus des Tätigseins und Pausierens zur Geltung bringen, so muss der Fabrikarbeiter immer auch noch Betracht ziehen, dass der momentan gezeigte Arbeitseifer dem soeben eingetroffenen Vorgesetzten zu minimalistisch oder den neidvoll mitbeobachtenden Kollegen übertrieben erscheinen könnte; und wenn sich an geheimen Urnenabstimmungen ungestört die subjektiven Präferenzen jedes einzelnen Bürgers ausdrücken können, so werden namentliche Abstimmungen an Versammlungen unweigerlich durch mannigfache soziale Einflüsse bestimmt. Kein Teilnehmer am grünen Verhandlungstisch wird in der Lage sein, ausschliesslich nur vorgängig konzipierte Standpunkte in fixierter verbaler Formulierung vorzutragen: weil er immer auch mitberücksichtigen muss, wer vorher was gesagt hat, welche Reaktionen anderer angesichts der Zusammensetzung des Gremiums sowie der "herrschenden Stimmung" zu erwarten sind und wie sich bestimmte implikationenreiche Selbstdarstellungen auf zukünftige Partizipations- und Einflusschancen auswirken könnten.

Zusätzliche Überdeterminationen und Orientierungskonflikte treten auf, wenn auch noch beobachtende Dritte mitanwesend sind, die unter Umständen eine völlig andere Perspektive als die Handlungsadressaten selbst einnehmen können. So können zufällige Augenzeugen einem Ertrinkenden allein deshalb nicht zu Hilfe eilen, weil sie nicht Gefahr laufen wollen, sich mit ihrer Ungeschicklichkeit vor andern "bystanders" zu blamieren (vgl. z.B. Sheleff, 1978; Latané/Darley, 1970); und das Zwiegespräch in der Cafeteria bleibt stärker am rein Konventionellen und Unverbindlichen haften, wenn "zufällige Mithörer" in Betracht gezogen werden müssen.

Die vielfältigen Erosionseinflüsse und Entdifferenzierungs-Wirkungen kollokaler Referenzen werden nun aber allerdings durch die Tatsache begrenzt, dass Handlungen nur in dem Masse zum Gegenstand intersubjektiver Wahrnehmung und Deutung durch Mitanwesende werden können, als sie in objektiven Verhaltensäusserungen (d.h. sinnlich identifizierbaren Ereignissen wie z.B. Körperbewegungen) zum Ausdruck kommen.

Dies bedeutet beispielsweise, dass reine Unterlassenshandlungen ausserhalb der kollokalen Einflusssphäre bleiben: sofern die Mitanwesenden nicht dieselben Sinnhorizonte übernehmen, die der Akteur selbst zum Zeitpunkt seines absichtlichen Nichthandelns besitzt (vgl. Geser 1986b: 651ff).

Besonders folgenreich ist das Faktum, dass die sinnliche Wahrnehmung vorwiegend kurze, prägnante, aus dem Kontext "gestalthafte" herausgehobene "Molekularhandlungen" erfasst, während übergreifende "Molarhandlungen" wegen ihrer Komplexität und zeitlichen Ausdehnung nicht in den Blick geraten: vor allem dann nicht, wenn die Partner wegen der Seltenheit oder Kurzfristigkeit ihrer Zusammenkünfte darauf angewiesen sind, aus einem äusserst limitierten Beobachtungsmaterial persönliche Attributionen und Typifikationen anzufertigen.

So kann ich in den feinen Einzelheiten taktvollen, höflichen und korrekten Auftretens jederzeit härtesten sozialen Konformitäts-Erwartungen und Sanktionseinflüssen unterliegen, während ich auf der Ebene meiner grösseren Handlungsstrategien frei bleibe, meine autonomen - vielleicht asozialen und subversiven - Ziele zu verfolgen. Vortragsreferenten müssen beispielsweise mit Bestürzung erleben, dass einzelne ihrer Randbemerkungen, ja partikuläre Besonderheiten ihrer Stimmführung und Begleitgesten beim Publikum besser als die sorgfältig erarbeitete Gesamtkonzeption der Rede zur Wirkung gelangen, und mancher subordinierte Beamte lernt sich darauf einzustellen, dass sich Vorgesetzte eher durch regelmässige Büroanwesenheit und gut vorgespielte "rege Geschäftigkeit" als durch die Qualität der langfristigen Arbeitsergebnisse beeindrucken lassen.

Im kollokalen Sozialmilieu ist es generell schwierig, komplexe Handlungsabläufe nach rein funktionalen, zweckrationalen Gesichtspunkten zu gestalten, weil die einzelnen Teilhandlungen immer auch unter dem Gesichtspunkt ihrer kommunikativen Bedeutung für Mitanwesende ausgewählt und ausgestaltet werden müssen. Unter Umständen müssen dann einzelne Teilschritte derart modifiziert, überbetont oder abgeschwächt werden, dass die entworfene Makrohandlung nicht mehr ausführbar ist oder zu einem völlig ungeplanten Ergebnis führt:

  • Verhandlungspartner können unter momentanen Zwängen des Taktes und der Höflichkeit zu einlenkenden Aussagen getrieben werden, durch die sie ihre eigenen ursprünglichen Zielstrategien unterminieren;
  • Beamte unterlassen den "Augenschein vor Ort", weil sie die dafür erforderliche Büroabwesenheit vor dem Vorgesetzten nicht legitimieren können;
  • Militärmanöver werden nicht im dichtbesiedelten urbanen Raume durchgeführt, um die Öffentlichkeit nicht durch plötzliche unerwartete Bewegungen (von Truppen, Fahrzeugen, Waffen u.a.) zu erschrecken.
Und hat man zur Erreichung eines Handlungszwecks mehrere alternative Wege zur Verfügung, so nimmt die Wahlfreiheit zwischen ihnen im kollokalen Milieu meistens ab: weil man jetzt jene Alternative präferieren muss, die die erforderlichen kommunikativen Ausdrucksfunktionen am besten erfüllt. Zum bekannten Phänomen der "Ritualisierung" kommt es dann in jenen extremen Fällen, wo Molekularhandlungen allein dank ihrer kommunikativen Funktion im Kollokalfeld festgehalten werden: völlig abgekoppelt von den mit ihrer Hilfe ursprünglich verfolgten Zwecke, die sich langsam und endgültig aus dem Bewusstsein verlieren (vgl. z.B. Goffman 1974: 97ff.; Eibl-Eibesfeldt 1975).

Völlig andersartige Folgeprobleme entstehen insofern, als zwischen Molarhandlungen und den sie konstituierenden Teilhandlungen gerade keine deterministischen Funktions- und Kausalbeziehungen bestehen. In diesem Falle zeigen sich die funktionalen Schwächen der Kollokalität darin, dass man mit ihrer Hilfe zwar einzelne Verhaltensabläufe, mittels dieser aber nicht auch die umfassenderen Gesamthandlungen unter soziale Steuerung bringen kann.

So kann es in sozialen Besserungsanstalten zwar leicht gelingen, verwahrlosten und delinquenten Jugendlichen eine Verhaltensoberfläche "guter Manieren" und eine für den alltäglichen Umgang durchaus brauchbare moralische Haltung beizubringen, ohne ihre devianten Grundhaltungen und langfristigen Lebenspläne dadurch im mindesten mitbeeinflussen zu können. Im Gegenteil kann die Beherrschung kultivierter, höflicher und moralischer Verhaltensweisen für Delinquente eine taktische Ressource sein, um sich zusätzliche "Wirkungsfelder" zu erschliessen: weil vertrauenerweckende korrekt aussehende Buchhaltertypen ja schliesslich viel eher als unrasierte "Hobos" Zugang zu Rollen und Informationen gewinnen, die günstige Gelegenheiten zu Unterschlagungen oder anderen Betrügereien vermitteln.

So gelangt man zur theoretisch äusserst wichtigen Folgerung dass komplexere Molar- und Makrohandlungen normalerweise nicht über sinnliche Wahrnehmungen in kollokalen Feldern "sozialisierbar" sind: so dass es von den translokalen und alokalen Sozialbindungen abhängt, inwiefern sie z.B. normenkonform sind und auf anerkannte Werte und Ziele hin ausgerichtet werden.

Darin liegt eine Hauptfunktion der "generalisierten Übertragungsmedien" (Geld, Macht, Wahrheit u.a.), die auf institutioneller Ebene funktionale Äquivalente für sinnliche Wahrnehmung darstellen, und deren Bedeutung in dem Masse steigt, als die Menschen dank hoher Handlungskompetenz in der Lage sind, komplexe und langfristige Strategien zielstrebig zu verfolgen (vgl. 4.3).

Besteht die sachliche Entdifferenzierungswirkung von kollokalen Feldern darin, dass die Akteuren ihren Orientierungsschwerpunkt von der komplexen Gesamthandlung auf einfachere molekulare Handlungen verschieben, so tragen sie in der zeitlichen Dimension dazu bei, relativ komplexe Vergangenheits- und Zukunftsorientierungen durch einfachere Bezüge an der Gegenwart (bzw. an unmittelbar abgelaufenen und direkt bevorstehenden Zeitpunkten) zu überlagern.

Sowohl für retrospektive Orientierungen (an Erinnerungen, Präzedenzfällen, kollektiven Traditionen u.a.) bleibt weniger Spielraum, wenn die Aufmerksamkeit vom gerade jetzt wahrnehmbaren Verhalten der Mitanwesenden gefesselt ist, soeben gestellte Fragen nach einer unmittelbaren Antwort verlangen, erkannte Missverständnisse unverzüglich ausgeräumt, kooperative Angebote sofort aufgenommen und unbedachte Beleidigungen augenblicklich entschuldigt werden müssen.

Strukturelle Vorgaben in Form von Themenstellungen, Sitzungsprogrammen, Status- und Rollenverteilungen zwischen Anwesenden u.a.m. können so explizit und verbindlich sein wir nur möglich: immer werden sie überlagert und teilweise neutralisiert durch eine Dynamik, deren Determinationskraft sich im Medium aktueller Verhaltens- und Wahrnehmungsprozesse entfaltet: in einem Fliessgleichgewicht unablässig voranschreitender Gegenwartspunkte mit ihren je eigenen retentionalen und protentionalen Sinnhorizonten, durch die sie in einem kontinuierlichen, bruchlos erlebten Zeitstrom zusammengehalten werden (vgl. Schütz 1973: 62ff.).

Kollokale Interaktionsfelder dienen der "Verdichtung von Gegenwärtigkeit" in einem Masse, wie dies auch einem, singulären Individuum mit seinem "Bewusstseinsstrom" nicht unbedingt zugänglich ist: weil die Anwesenden in der Lage sind, die Verhaltensweisen der jeweils anderen besser als ihre eigenen in ihrem aktuellen Ablauf wahrzunehmen und einander ihre Reaktionen darauf unverzüglich mitzuteilen:

"Weil jedem der Augenblicke seiner Dauer auch ein Augenblick der Dauer des ALTER EGO entspricht, auf den es hinzusehen vermag, gewinnt das Ich in einer ungleich grösseren Fülle Zugangsprinzipien zu den Bewusstseinserlebnissen des Du als zu seinen eigenen Erlebnissen. Das Ich "weiss" seine ganze Vergangenheit, soweit es sie überhaupt phänomenal in wohlunterschiedene Erlebnisse eingefangen werden kann. Aber es hat sich niemals selbst in leibhaftiger Gegenwart und in der Fülle des Jetzt und So "gegeben", und zwar deshalb nicht, weil es in der Fülle seines Jetzt und So leibhaftig lebt und sich nur abgelaufenen eigenen Erlebnissen rückschauend zuwenden kann. Hingegen ist das umweltliche Du dem Ich, auch wenn dieses von der fremden Vergangenheit nichts weiss, in der Fülle seines Jetzt und So leibhaftig gegenwärtig." (Schütz, 1974:144).

Weil das einsame Subjekt zu seinem (nicht-verbalen) Verhalten im allgemeinen keinen direkten Beobachtungszugang hat, kann es sich ja nicht durch laufende Selbstbeobachtung steuern, sondern ist auf die retrospektive Identifikation und Beurteilung eines jeweils abgeschlossenen Handelns ("modo plusquamperfecti") einerseits und auf die prospektive Vorwegnahme der intendierten Handlung und ihrer Ergebnisse andererseits ("modo futuri exacti") verwiesen (vgl. Schütz 1974: 74ff.).

Im kollokalen Interaktionsverhältnis erst gewinnt es gesteigerte Möglichkeiten, sich auch mit seinem jeweils gegenwärtigen Verhalten in einen (wenigstens indirekten) kognitiven Bezug zu setzen: indem es seine Interaktionspartner als Spiegel benutzt, die ihm durch ihre Reaktionen unverzügliche Mitteilungen über Interpretation und Wirkung seines wahrgenommenen Verhaltens zukommen lassen.

Die Fremdwahrnehmung wird der Selbstwahrnehmung aber immer etwas vorauslaufen und vollständigere Information als diese enthalten: so dass ALTER unter anderem deshalb andauernd interessant bleibt, weil er über EGO einiges mehr weiss als EGO selbst, und weil es in seinem Ermessen liegt, inwiefern und wann er EGO dieses Mehrwissen vermittelt.

Alle Kollokalsysteme enthalten das Potential, Interaktionsprozesse von vorgängigen Strukturfixierungen auf sozialer Ebene (z.B. Statusdifferenzierungen, formale Regeln, Traditionalität) wie auch auf personeller Ebene (z.B. Charaktertypifikationen, Selbstbilder u.a.) loszukoppeln und das entstehende Orientierungsvakuum durch die "Autopoiesis" laufender Kommunikationsprozesse zu ersetzen.

In ihrem fluiden, permanent respezifizierbaren Zustand sind sie in der Lage, aber auch dazu gezwungen, gegenüber ständig wechselnden Ereignissen aus der Umwelt oder Inputs ihrer Mitglieder sensibel zu bleiben, um ihren sich andauernd reproduzierenden Zustand innerer Unterdeterminiertheit zu reduzieren (vgl. Luhmann 1984). Ständig neue verbale Beiträge und Themenstellungen sind beispielsweise erforderlich, um eine Konversation in Gang zu halten, und zusammenlebende Partner müssen für einen andauernden Zufluss variabler "Gemeinschaftserlebnisse" sorgen, um genügend Rohmaterial für kommunikative Verständigung, Konsensbezeugung u.a. zur Verfügung zu haben.

Viele Institutionen schaffen kollokale Subsysteme mit der expliziten Absicht, dadurch nicht nur passive Rezeptionsorgane, sondern aktive "Ansaugstellen" für beliebig variierende Umweltinformationen, neuartige Aufgabendefinitionen oder selbsttätig ausgeweitete Themenstellungen zu gewinnen: z.B. wenn der Staat den Gemeinden die pauschale Kompetenz überlässt, subsidiär für alle nicht explizit den höheren Ebenen zugewiesenen öffentlichen Aufgaben zu sorgen; oder wenn "Brain storming-Gruppen" eingerichtet werden mit dem Zweck, über die Fülle aktueller Probleme und Lösungsmöglichkeiten eine bessere Übersicht zu gewinnen.

Andererseits wird jede Institution dazu neigen, ihre kollokalen Subeinheiten an der allzu weitgehenden Verselbständigung einer rein gegenwartsbezogenen Perspektive zu hindern: indem sie dazu genötigt werden, vielfältige strukturelle oder kulturelle Parameter zu respektieren oder sich gar - wie z.B. beim eucharistischen Ritus der katholischen Kirche - sich auf den reinen Vollzug institutioneller Zeremonien zu beschränken.

 Wahrscheinlich nimmt aber im Laufe der evolutionären Gesellschaftsentwicklung die Tendenz zu, mittels einer stärkeren Ausdifferenzierung zwischen Organisations- und Interaktionsebene (vgl. Luhmann, 1975) aus den spezifischen Leistungseigenschaften kollokaler Systeme grösseren Nutzen zu ziehen und für die damit einhergehenden Reintegrationsprobleme angemessene Lösungen zu finden. So haben viele gesellschaftlichen Institutionen im Zuge der "Human Relations-Bewegung" sowie des kulturellen Wandels der 60er und 70er Jahre ihre "innere Vegetation" an informellen und relativ autonomen Kollokalgruppen stark erweitert, offensichtlich ohne in ihrer Makrostabilität grossen Schaden zu nehmen (vgl. Martin 1981: passim).

Praktisch alle gesellschaftlichen Institutionen benutzen kollokale Subsysteme, um sich an ihrer Peripherie gegenüber unvorhergesehenen lokalen Umweltereignissen und -entwicklungen zu sensibilisieren und fähig zu sein, mit kurzfristigen flexiblen Massnahmen adaptiv auf sie zu reagieren.

Gerade dadurch aber wirken sie als absorbierende Filterstrukturen, die Anpassungsprobleme von den überlokalen institutionellen Kernstrukturen fernhalten und es diesen ermöglichen, umso ungestörter und kompromissloser an ihren rigiden Vergangenheitsbindungen (Traditionen, Regeln u.a.) oder starren Zukunftsorientierungen (Zielsetzungen, Planungen etc.) festzuhalten.

Schliesslich ist mit dem Vorrang wahrnehmungsgesteuerter Situationsorientierung auch eine schwerwiegende Entdifferenzierungswirkung in sozialer Hinsicht verbunden: weil die allgemein zugängliche, unkontrollierbare Wahrnehmbarkeit emittierter Kundgaben zur Folge hat, dass es in einer Gruppe gemeinsam anwesender Individuen nur schwer gelingt, stabile interne Subsystemdifferenzierungen aufrechtzuerhalten.

Bei jedem kommunikativen Akt muss beispielsweise in Rechnung gestellt werden, dass er von nichtgemeinten Dritten ebenso gut wie von den intendierten Adressaten wahrgenommen werden kann: ja dass es im Medium der Kommunikation oft nicht hinreichend gelingt, den engeren Kreis der Adressaten gegenüber dem weiteren Bereich von "Mitbeteiligten" und dem noch grösseren Feld zufälliger Mitanwesender hinreichend klar zu differenzieren (Goffman 1981: 131ff.).

Sonst so eindeutige Ausdruckkundgaben wie "Blicke werfen", "Händchen halten", "Arm einhängen" u.a. werden ihrem gemeinten Sinn nach aequivok: weil immer damit gerechnet werden muss, dass derjenige, der sie vollzieht, nicht nur dem Partner seine Zuneigung ausdrücken will, sondern auch Dritten gegenüber das Bestehen einer intimen Partnerbeziehung vordemonstrieren (bzw. gar vortäuschen) möchte (Goffman 1974: 264).

Und wenn ich mich mit meiner neuen Freundin im Restaurant verabrede, kann ich nie ganz sicher sein, dass sie sich nur wegen mir so geschmackvoll frisiert und angezogen hat: weil ich ihr immer auch das Interesse unterstellen muss, aus selbstreferentiell-narzistischen Motiven gut auszusehen oder gegenüber ganz anderen Personen einen positiven Eindruck zu erwecken.

So wirkt die Tatsache, dass die im Kollokalsystem emittierten Kundgaben objektive Äusserungen darstellen und deshalb für Beteiligte und Aussenstehende in gleicher voraussetzungslosen Weise wahrnehmbar sind, als entdifferenzierende Kraft. Vorher stabilisierte Sozialbeziehungen verlieren zumindest teilweise ihre Abschirmung und autonome Selbststeuerung, da sie sich dem umfassenderen Einflussfeld und Konformitätsdruck, der von anderen Mitanwesenden ausgeht, unterwerfen müssen..

Solche Einbindungen sind besonders unausweichlich und drückend, wenn es sich bei den relevanten Mitanwesenden um heterogene oder anonyme "Andere" handelt, die das Handeln völlig unbehindert beobachten können, ohne sich andererseits im mindesten in den Interaktionszusammenhang integrieren zu lassen. Ein modernes Beispiel für disziplinierende und entdifferenzierende Wirkung einer "anonymisierten Öffentlichkeit" bilden Grossraumbüros, die den partikulären Beziehungsverhältnissen und mikroskopischen "Subkulturen", die sich im traditionellen Kleinbüro ungestört entfalten konnten, jegliche Entfaltungsbasis entziehen (vgl. Fritz 1982).

Im extremen Grenzfall kann die weitere Aufrechterhaltung der Sozialbeziehung überhaupt nur noch den Zweck haben, auf mitanwesende Dritte einen bestimmten Eindruck zu machen: z.B. wenn ein junger Mann sich trotz fehlender Zuneigung weiterhin mit "seinem" Mädchen trifft, um gegenüber Freunden und Bekannten nicht als jemand zu erscheinen, der unfreiwillig einsam ist (Goffman 1974: 267). Die völlig heteronome Konstitutionsweise einer derartigen Beziehung wird dann sichtbar, dass sie sofort beendet wird, wenn der stützende Rahmen "relevanter Mitanwesender" nicht mehr existiert.

Mit ihren beschränkten Differenzierungsmöglichkeiten in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht hängt es zusammen, dass Kollokalsysteme sich der sozialwissenschaftlichen Beschreibung und Analyse als relativ leicht zugängliche Untersuchungsgegenstände anbieten, die der Anwendung objektivierender, an der Positivität des Faktischen orientierter Methoden weniger Widerstand als andere soziale Gebilde entgegensetzen.

Erfolgreicher als etwa im Falle formaler Organisationen, sozialer Bewegungen, Klassen, Stände, ethnischer Gruppen oder ganzer institutioneller Ordnungen kann man unterstellen, dass auslösende Ursachen wie auch zahlreiche Konsequenzen beobachteter Verhaltensweisen oder Interaktionsabläufe auf derselben Beobachtungsebene liegen, und dass sie angemessen verständlich und erklärbar werden, wenn man die unmittelbar vorangehenden oder nachfolgenden Ereignisse einbezieht und sich bei der Suche nach determinierenden Partnern auf den anschaulichen Kreis der simultan Mitanwesenden beschränkt.

Beispielsweise kommt man recht weit mit der Arbeitshypothese, dass verbale Äusserungen unter Anwesenden als Reaktionen auf soeben vorhergegangene Äusserungen begriffen werden können: nicht nur weil und insofern sie vom Sprecher selbst so gemeint sind, sondern aufgrund der noch viel verlässlicheren Tatsache, dass die Zuhörer sie in dieser Weise auffassen und ihnen deshalb via Attribution diesen Realitätscharakter verleihen (vgl. Goffman 1981: 12).

Überhaupt ist es bei der Analyse kollokaler Kommunikation weniger notwendig und hinreichend, das Verstehen einer Äusserung

- am "subjektiv gemeinten Sinn" des individuellen Akteurs einerseits
- am "objektiven", durch soziale Konvention oder institutionelle Oktroyation über subjektiv in Geltung gesetzten Sinn andererseits
festzumachen: weil eher der vom symbolischen Interaktionismus oder im Werk Merleau-Pontys so hervorgehobene Zustand vorherrscht, dass sich der Sinn von Äusserungen (verbaler oder gestischer Art) im aktualen Zusammenwirken mehrerer Subjektivitäten überhaupt erst konstituiert:

"Gebe ich einem Freund ein Zeichen, zu mir herüberzukommen, ist meine Intention nicht ein Gedanke, den ich in meinem Inneren hege, noch nehme ich das Zeichen in meinem Körper wahr. Ich mache das Zeichen durch die Welt hindruch, ich mache es dort, wo mein Freund sich befindet, der Abstand, der micht von ihm trennt, seine Zustimmung oder Ablehnung, spiegeln sich unmittelbar in meiner Bewegung; es liegt keine Wahrnehmung vor, der eine Bewegung folgt. Wahrnehmung und Bewegung bilden nur ein System, das als Ganzes sich modifiziert." (Merleau-Ponty 1965: 136/137).

Kollokale Interaktionsfelder bewähren sich hier als genetische Ausgangssubstrate für intersubjektiv konstituierten Sinn, der sich nachher als vom Persönlichkeitssystem getragener "subjektiver Sinn" einerseits oder als auf kultureller Ebene stabilisierter "objektiver Sinn" andererseits sekundär verselbständigen kann, indem er sich von den partikulären Kommunikationsfeldern die für seine Konstituierung verantwortlich waren, emanzipiert (vgl. auch Kap. 4).

Dort wo ein soziologischer Beobachter also ein auf Kollokalität beruhendes Feld interindividueller Wechselwirkungen vor sich hat, bleibt ihm also zumindest teilweise die Mühe erspart, zu den geheimnisvollen Urgründen subjektiver Intentionalität herabzusteigen oder sich umfassende Kenntnis über kulturell verankerte symbolische Codes und semantische Konventionen anzueignen. Stattdessen darf er damit rechnen, dass einiges an Sinn im aktualen Kommunikationszusammenhang selbst erst erzeugt wird, und vor allem auch: dass die beteiligten Akteuren sich an denselben sinnlich wahrnehmbaren (und deshalb: objektiven) Äusserungen orientieren, die auch ihm als Beobachter kognitiv zugänglich sind..

Selbstverständlich sind mit der Tatsache, dass dieselben Handlungsabläufe in der doppelten Funktion

  • als Ursachen physischer Bewirkungen einerseits
  • als kommunikative Ausdruckskundgaben andererseits
das interpersonale Feld mitkonstituieren, ausserordentlich grosse Ersparnismöglichkeiten und Leistungsvorteile verbunden, es erklärlich machen, warum kollokale Interaktionssysteme in weitesten Bereichen kooperativen Handelns völlig unverzichtbar sind.

So vermag der Handwerksmeister durch eine leichte Akzentuierung seiner Bewegungen den Arbeitsablauf so zu gestalten, dass er nicht nur zum gewünschten Produktionsergebnis führt, sondern gleichzeitig auch dazu dient, dem Lehrling modellhaft gewisse Verfahrensweisen vorzuführen, die er nachher selbständig ausführen kann. Und die - für alle Teilnehmer überlebenswichtigen - Koordinationsleistungen im Strassenverkehr können nur deshalb mit einer derart erstaunlichen Schnelligkeit und Verstehenssicherheit erfolgen, weil physische Bewirkungs- und symbolische Kommunikationshandlungen praktisch vollständig miteinander koinzidieren. Wer z.B. konsequent geradeaus fährt, realisiert erstens seine subjektive Fortbewegungsintention und teilt zweitens den andern Verkehrsteilnehmern mit, dass er genau diese Intention unbeirrt verfolgt.

Im besonderen eignen sich alle im kollokalen Feld vollzogenen Handlungen auch dazu, um Metainformationen darüber zu transportieren, wie der Akteur diese seine Handlung genau interpretiert, und wie er sein Rollenhandeln auf seine Person bezieht. So kann der "Stil" des Verhaltens unmissverständlich verraten, dass man das zu lösende Problem für eine repetitive Routineaufgabe hält, dass der höflich empfangene Besucher im Grunde unwillkommen sei, oder dass man Wert darauf legt, sich gegenüber den auszuführenden Pflichten in ein Verhältnis kritisch-ablehnender "Rollendistanz" zu setzen (Goffman 1961: 75ff.).

Auf diese Weise lassen sich Verhandlungsprozesse gleichzeitig als Trägermedium für äusserst bedeutsame Begleitinformationen über dieses Verhalten nutzen, die sonst zusätzlich in verbaler Form (und damit: zeitverzögert und selektiv) bereitgestellt werden müssten.


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