UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29 Dezember 1996)

 


 


VIERTES KAPITEL:

EIGENDETERMINIERTHEIT DER INTERAKTIONSPROZESSE ALS SUBSTITUT FÜR SUBJEKTIVATIONEN UND OBJEKTIVATIONEN

 

4.3 Kollokale Interaktion im Spannungs- und Substitutionsverhältnis zur Ebene kultureller Objektivationen

I

Kollokale Individuen sehen sich - weitgehend ohne eigenes Zutun - einem dichtgewobenen und über verschiedenste Sinnesorgane vermittelten Feld aktualer Wechselwirkungen ausgeliefert. Dieses Netzwerk horizontaler Wahrnehmungs- und Einflussprozesse vermag eine derart hohe Eigendetermination zu entfalten, dass externalisierte Symbolmuster mit überindividueller, kultureller Geltung entweder nicht ausdifferenziert und verselbständigt werden, keine Verwendung finden, mit dem interreferentiellen Feld der Sinnorientierung in ein konfliktives Verhältnis treten oder unter dessen Einfluss derart modifiziert werden, dass sie mit der Aktualität des Erlebens und Erkennens besser im Einklang stehen.
 

Diese relative Irrelevanz veräusserlichter, objektivierter Symbolmuster ist dann besonders ausgeprägt, wen
 
 

  1. gleichzeitig sehr verschiedene Kanäle sinnlicher Wahrnehmung (z.B. Riechen, Berühren, Hören, Sehen u.a.) zur Verfügung stehen, die sich komplementär ergänzen;
  2. die Partner einander nahe genug sind, um einander in den Feinheiten ihrer unverwechselbaren individuellen Eigenheiten wahrnehmen können;
  3. interpersonelle Wahrnehmungsakte den oben beschriebenen diffusen Gesamtcharakter wahren: so dass sie gleichzeitig unter dem Aspekt subjektiven Erlebens und objektiven Erkennens aufgefasst werden und dadurch einen doppelten Orientierungswert entfalten.
So müssen kollokale Interaktionspartner zum Beispiel weniger auf den "objektiven Sinn" ihrer Rede achten, solange aus dem Kontext der aktuellen Gesamtsituation und aus den nichtverbalen Begleitäusserungen hinreichend ersichtlich ist, wie der Redner es meint, wenn er genau jetzt genau dies sagt.

Und sie brauchen ihre wechselseitigen Erwartungen kaum an ihren objektiven Status- oder Rollenmerkmalen (Geschlecht, Alter, Bildung, Beruf, ethnische Herkunft u.a.) festzumachen, solange die Rückkoppelungsdichte gross genug ist, um dem kollokalen Feld Merkmale einer autarken, sich mit eigenen Bordmitteln spezifizierenden und stabilisierenden Insel sozialer Interaktion und Verständigung zu verleihen.

Wenn sich zwei in sinnlicher Wahrnehmung aufeinander bezogene Partner räumlich voneinander entfernen, findet eine stufenweise qualitative Verarmung und quantitative Ausdünnung ihres Interdependenzfeldes statt, die einerseits durch eine verstärkte Mobilisierung internaler subjektiver Vorstellungen und Erlebnisgehalte (vgl. 5.4), andererseits aber auch durch einen vermehrten Einsatz überindividueller Konventionen oder materieller Trägersubstrate wettgemacht werden kann (Schütz 1974: 246).

Soll beispielsweise der vorher im "zwanglosen Gespräch unter vier Augen" geführte Kommunikationsprozess auch über noch wachsende räumliche Distanzen hinweg aufrechterhalten werden, sehen sich die Partner zu folgenden Anpassungen gezwungen:

  1. Sie müssen gut und akzentuiert deutlich rufen; und damit eine Form der Stimmführung wählen, bei der verschiedene Modalitäten der Intonation, die den Sinn mündlicher Rede normalerweise mitkonstituieren, kaum mehr zum Ausdruck gelangen können.
  2. Elaborierte Ausführungen werden durch verkürzte und prägnante, mit der Sprech- und Hörphysiologie noch vereinbare Äusserungen ersetzt: so dass die erfolgreiche Verständigung (wie bei jeder Verwendung eines "restringierten Codes") davon abhängt, dass die Sprechenden ein umfangreiches Repertoires konventioneller Vorverständigung miteinander teilen.
  3. Nichverbale Begleitäusserungen mimischer und gestischer Art, die das Verständnis der kollokalen Rede so erleichtern, fallen immer mehr weg, weil der Sprecher eine anstrengende, eher von generellen physiologischen Zwängen statt individualisiertem Ausdruck diktierte Körperhaltung und Gesichtsmimik einnehmen muss, und weil das visuelle Auflösungsvermögen des Hörers zu gering ist, um subtile Verhaltenskundgaben zu registrieren. Dementsprechend muss der gesamte Sinngehalt einer verbalen Äusserung immer ausschliesslicher vom "objektiven Sinn" der gesprochenen Worte her erschlossen werden, oder es werden äusserst deindividualisierte Gesten (z.B. Winkbewegungen) verwendet, die mit einem völlig standardisierten Bedeutungsgehalt ausgestattet sind und in forcierter, übertriebener ritualisierter Weise ausgeführt werden müssen, um ihren Signalwert zu behalten.
Bei ständig wachsender Entfernung wird sich das Ausdrucksrepertoire schliesslich auf elementare Lautäusserungen oder visuelle Kundgaben digitaler Art (Hand-, Licht- oder Rauchzeichen) beschränken, deren kommunikativer Gehalt völlig davon abhängig ist, dass sie im Rahmen eines streng konventionalisierten Codes (z.B. eines Morse- oder Flaggenalphabets) präzise definiert sind.

Immer ist mit dem Überwechseln von kollokaler zu translokaler Interaktion eine erhöhte Tendenz

  1. zur konservativen Anlehnung an bestehende, möglichst gut verankerte und standardisierte Symbolsysteme
  2. zur konformen Einbindung in semantische Strukturen mit möglichst extensiver gesellschaftlicher Geltung
verbunden.

Und immer stärker wird die Kommunikation auf das niedrige Komplexitätsniveau jener simplifizierten Codes heruntertransformiert, deren Kenntnis und Beherrschung jedem Partner zugemutet werden darf:. Nur so kann man sicher sein, richtig gesendet zu haben und/oder richtig verstanden zu werden, auch wenn bestätigende oder korrigierende Rückmeldungen erst viel später oder gar nicht erfolgen.

In der kollokalen Situation ist durch die intensive inter-individuelle Wechselwirkung dafür gesorgt, dass die drei analytischen Bestandteile des Kommunikationsprozesses

  1. Inhalt der Mitteilung
  2. Akt der Enkodierung und Transmission
  3. Akt der Rezeption und Decodierung
in einem gesicherten, sich ohne Anstrengungen und Zeitverluste einstellenden Zusammenhang zueinander stehen. Die Inhalte des Gesagten erhalten erst durch die reziprok zu verifizierenden Umstände, wer sie wann wie ausdrückt und rezipiert, ihren spezifischen, situationsunabhängigen Sinn.

Unter translokalen Bedingungen sind diese drei Komponenten viel stärker voneinander dissoziiert: indem der Sender z.B. nicht nachprüfen kann, ob und unter welchen Bedingungen der Empfänger die Botschaft aufnimmt und wie er darauf reagiert; und der Empfänger auf den isolierten Mitteilungsinhalt (z.B. in Form eines Schriftstückes) verwiesen ist, ohne dass er zu deren Verständnis präzise Kenntnisse über die Situationsbedingungen oder die Motivationen des Senders, die beim Enkodierungszeitpunkt bestanden haben, beiziehen könnte.

Damit unter solch erschwerten Bedingungen Kommunikation gelingen (und ihr Gelingen erfolgreich erwartet werden) kann, müssen zur Abstützung kulturelle Konventionen und Objektivationen herangezogen werden, die eine zweifache Aufgabe erfüllen.

  1. Sie müssen sicherstellen, dass der Empfänger unabhängig sowohl von den Begleitumständen der Emission wie auch von den Inhalten des Übermittelten motiviert ist, die Botschaft zu rezipieren. Diese generalisierte Rezeptionsbereitschaft muss erwartbar sein: weil sonst der Mitteilende nicht motiviert wäre, (weiter) zu senden. Diese Funktion wird von den auf gesamtgesellschaflticher Ebene verankerten (und gemeinsam mit der Gesellschaft koevoluierenden) generalisierten Kommunikationsmedien erfüllt.
  2. Sie müssen sicherstellen, dass die Inhalte der Mitteilung unabhängig von den Bedingungen ihrer Emission wie auch ihrer Rezeption einen invarianten, festgelegten Sinn beibehalten. Die Kommunikationspartner müssen sicher sein können, richtig verstanden zu werden, obwohl sie sehr wenig voneinander wissen - und dies umso mehr, weil Missverständnisse nur mühsam und mit Verzögerung identifiziert und korrigiert werden können. Zu diesem Zweck ist die Ausdifferenzierung formalisierter, kontextfrei verwendbarer Codes notwendig, mit deren Hilfe "immanent verständliche Symbolmuster" (z.B. schriftliche Texte) erzeugt werden können. Auch von dieser Seite her kovariiert die Reichweite erfolgreicher translokaler Interaktion unmittelbar mit dem Stadium der sozio-kulturellen und technischen Evolution.

II

Ausserhalb kollokaler Interaktionsfelder hängt es weitgehend vom gesamtgesellschaftlichen Institutionalisierungsgrad generalisierter Kommunikationsmedien wie "Macht", "Geld", "Liebe" oder "Wahrheit" ab, ob Kommunikationsprozesse (a) faktisch gelingen und ob (b) ihr Gelingen dermassen erwartbar sind, dass komplexe und dauerhafte Interaktionsstrukturen aufgebaut werden können.
 
 

1) Macht:

Unter Anwesenden ist es normalerweise weder notwendig noch hinreichend, soziale Beziehungen in Termini objektiver Machtdifferentiale zu kodieren, um asymmetrische Einflussprozesse oder Führer-Gefolgschaftsverhältnisse zu erzeugen und zu stabilisieren. Denn die Ubiquität interpersoneller Ausstrahlungs-, Überzeugungs-, Kontroll- und Sanktionsmechanismen sorgt dafür, dass im Interaktionsverlauf eine endogene Ungleichverteilung von Partizipations- und Steuerungschancen aufgebaut werden kann, die von den Wechselfällen der Interaktionsgeschichte sowie den Merkmalen der konkreten physischen Einzelpersonen abhängig bleibt.

So kann man beobachten, dass sich an internationalen Konferenztischen keineswegs die "objektiven Machtverhältnisse" zwischen gigantischen Supermächten und marginalen Kleinstaaten getreulich widerspiegeln: weil das faktische Gewicht der Delegierten immer auch davon abhängig ist, welche Eigenschaften persönlicher Art (Charisma, Überzeugungskraft, Engagement, taktische Kompetenz u.a.) sie in den Verhandlungsprozess einbringen (vgl. Yung-mei 1979: 347ff.). Selbst der dominierendste konnubiale Ehemann wird ohne Widerstreben für Frau und Kinder die nötigen Subsistenzmittel zur Verfügung stellen: während er nach der Scheidung oft genug nur durch gerichtlichen Zwang dazu bewegt werden kann, auch nur die mindesten Alimente zu entrichten. Und ein mächtiger Grossunternehmer kann relativ leicht in eine gesamtkommunale Verantwortung eingebunden werden, solange er in der Standortgemeinde seines Betriebes wohnt und den entsprechenden Mechanismen informeller Kontrolle unterliegt, während abwesende Firmeneigentümer wenig Skrupel verspüren, die ihnen formalrechtlich zustehenden Eigentumsrechte bis zur letzten Rücksichtslosigkeit auszunützen (vgl. Warner/Low 1947: 180ff.).

Vor allem der moderne Staat ist natürlich darauf angewiesen, ";Macht" als ein zwar auf Einflussmittel abgestütztes, aber weit darüber hinaus generalisiertes und kontextfrei allozierbares Kommunikationsmedium in Anspruch zu nehmen, um im hintersten Winkel eines beliebig weiten Territoriums dieselbe Intensität von "Herrschaft" wie unmittelbar neben dem Regierungspalast gewährleisten zu können. Die Bedeutung dieser evolutionären Errungenschaft wird z.B. im Vergleich mit frühmittelalterlichen Gesellschaftsordnungen deutlich, wo sich der Herrschaftsbereich des Kaisers vorwiegend um den Ort seiner jeweiligen Anwesenheit konzentrierte: so dass eine permanente Reisetätigkeit nötig war, um eine umfassendere räumliche Reichweite seines Einflusses zu sichern.
 
 

2) Geld:

Mitglieder kollokaler Gruppen lassen sich leicht zu Leistungen aller Art bewegen, für die sie anstelle von Geld Belohnungen diffuserer Art akzeptieren, die (wie z.B. Respekt, Lob, Ehre, Dankbarkeit) nur im partikulären Interaktionsfeld einen "Tauschwert" besitzen. Solche Belohnungsmittel beziehen ihre unwiderstehliche Kraft daraus, dass sie unmittelbar auf die Leistung folgen und schon deswegen akzeptiert werden müssen, weil ihre Zurückweisung ganz generelle Zweifel an der Teilnahmewilligkeit, Vertrauenswürdigkeit und Berechenbarkeit des Akteurs nach sich ziehen würde.

So kann man beispielsweise feststellen, dass sich Individuen auf kommunaler Ebene relativ leicht für unbezahlte öffentliche Ehrenämter zur Verfügung stellen oder sich zu spontaner nachbarschaftlicher Hilfeleistung bereitfinden können. Naheliegend, aber durchaus unberechtigt ist die Vermutung, dass sich derartige Dispositionen nur unter dauerhaft-gemeinschaftlich zusammenlebenden Personen einstellen würden. Es fällt uns ehrlich schwer, einem uns um Rat fragenden Stadttouristen (und erst recht einem bereits im Wagen sitzenden Autostopper) selbst extravagante Bitten abzuschlagen, und die sozialwissenschaftliche Surveytechnik geht wie selbstverständlich davon aus, dass sich die von einem Interviewer zu Hause aufgesuchten Informanten in der Regel zu einer völlig unbezahlten Befragungsteilnahme bewegen lassen - während materielle Anreize bei fernschriftlicher Befragungen durchaus ein hohes Gewicht erhalten können (vgl. z.B. Wieken 1974: 151).
 
 

3) Liebe

Meinem "Nächsten" gegenüber stelle ich in mir die eigenartige Neigung fest, auf die ganze Fülle von Erkenntnissen und Erlebnissen, die seine Gegenwart mir vermittelt, in einer integralen (z.B. alle Impressionen zu einem Gesamteindruck von "Sympathie" oder "Antipathie" zusammenfassenden) Weise zu reagieren. Gerade weil die Komplexität des Wahrgenommenen im Falle menschlicher Personen viel zu gross ist, um in rein kognitiven Modellvorstellungen abbildbar zu sein, muss ich mich auf die holistische, spontan-unkontrollierbare Synthesetätigkeit meiner Emotionen verlassen, um augenblicklich Sicherheit darüber zu gewinnen, was mir die nahe Person bedeutet, wie ich zu ihr Stellung beziehe und auf ihre Äusserungen reagieren möchte.

So finden sich kollokale Partner alsbald in spontan-unkontrolliert erzeugten Bezogenheiten zueinander vor, bei denen vorerst höchst undeutlich bleibt, in welcher Weise sich objektivierende Kognitionen und subjektive Affektreaktionen miteinander verbinden. Die endogene Eigendynamik derartiger Relationen wird besonders deutlich bei jenen sexuellen Intimbeziehungen, die im okkasionellen räumlichen Beisammensein der Partner (in Autos, Nachtzugabteilen, Zeltlagern u.a.) ihre praktisch hinreichenden Ursachen haben und erst dann, wenn sie über diese eine Kollokalphase hinaus andauern sollen, einer begrifflichen Etikettierung (als "Bekanntschaft", Freundschaftsbeziehung" u.a.) bedürfen.

Indem die Partner sich auf die semantische Konvention verständigen, ein "Liebespaar" im gesellschaftlich üblichen Sinne zu sein, können sie die exklusive Qualität ihrer Beziehung über beliebige Verdünnungsphasen oder Unterbrüche ihrer faktischen Interaktionen hinweg sicherstellen und können davon ausgehen, dass Blumengrüsse, sentimentale Postkarten oder nächtliche Telefonanrufe als legitime, erwartbare Symptome ihres "Verhältnisses" (anstatt als unmotivierte Belästigungen) verstanden werden.

Und auch die expliziten Gebote der christlichen Liebesethik gewinnen erst in dem Masse an Gewicht, als Solidaritäts- und Hilfebeziehungen über jenen engen kollokalen Kreis hinaus ausgedehnt werden sollen, um auch jene "Fernsten" mitzuumfassen, zu denen ich mich nur vermittelst generalisierter kultureller Wertvorstellungen in "prosozialer" Weise zuwenden kann (vgl. z.B. Luhmann 1973a).
 
 

4) Wahrheit

Im Gespräch unter Anwesenden fällt es im allgemeinen sehr schwer, Behauptungen und Argumente nur "für sich selbst sprechen zu lassen" und sicherzustellen, dass sie ausschliesslich auf Grund ihrer immanenten Qualitäten (Evidenz, logische Stringenz, objektiver Wahrscheinlichkeitsgrad u.a.) Anerkennung finden oder Widerspruch erregen. Denn weil die Inhalte der Kommunikation sich nicht von den situativen Randbedingungen (ihrer Enkodierung und Transmission einerseits und ihrer Rezeption und Dekodierung andererseits) loslösen lassen, wird ihr Sinngehalt (und damit auch: ihre Chancen, als wahr zu gelten) immer davon mitbeeinflusst, von wem, zu welchem Zeitpunkt, in welcher Weise und in Richtung auf welche Adressaten sie geäussert werden.

So kann ich nicht davon abstrahieren, ob jemand seine unwahrscheinlich klingenden Reiseanekdoten mit ernsthaftem, vertrauenserweckendem Gesichtsausdruck oder mit ironisch-relativierendem Augenzwinkern begleitet; und der rhetorisch versierte Rheumadeckenverkäufer vermag hinsichtlich der Vorzüge seiner Produkte handlungsmotivierende Überzeugungen zu wecken, die zumindest bis zum erfolgreichen Kaufvertragsabschluss überlebensfähig bleiben.

Möglicherweise verfügt jeder Mensch über ein gewisses (allerdings irreversibel verspielbares) "generalisiertes Glaubwürdigkeitskapital": in dem Sinne, dass er die Akzeptanzchancen irgendeiner Aussage erhöhen kann, wenn er sich mit der Integrität seiner ganzen Person dafür verbürgt. Und manche sind auf Grund eines personengebundenen Charismas ("referent power") in der Lage, in ihrem kollokalen Nahfeld Konsens (bzw. Nichtdissens) über ihre Meinungen zu erzeugen: so dass sie unsanktioniert in die Irre gehen können, wenn sie nicht aus ferneren Regionen, wo ihre Ausstrahlung unwirksam ist, unvoreingenommene Kritik erfahren.

Um die Akzeptanz von Assertionen auch über räumliche Distanzen hinweg sicherzustellen, ist es nämlich notwendig, den Inhalt der Mitteilung selbst mit immanenter Glaubwürdigkeit auszustatten: weil man nicht mehr auf unterstützende Wirkungen diffuser interpersoneller Beeindruckungen zählen kann. So muss man für praktisch alle schriftlich vermittelten Behauptungen "Wahrheit" in Anspruch nehmen, indem man darlegt, dass sie strikt auf dem Wege gesellschaftlich anerkannter Verfahren der Wahrheitsfindung (z.B. logische Deduktion, mathematische Kalkulation oder empirische Beobachtung) gewonnen worden sind und eine von allen zufälligen Partikulärbedingungen ihrer Kommunikation unabhängige Geltung besitzen.

So ist es leicht verständlich, dass die mit der Schriftkultur einhergehenden Explikationszwänge eine notwendige historische Voraussetzung für die Entfaltung systematischerer Methoden des Denkens und Erkennens darstellen, und dass im translokalen Kommunikationsfeld zwischen den antiken griechischen Poleis besonders günstige Bedingungen für die Entstehung einer autonom sich selbst begründenden Philosophie bestanden haben (vgl. Havelock 1963, Luhmann 1984: 128).

Ebenso mag es der modernen Wissenschaft auf der Ebene weltweiter translokaler Schriftinterkation (via Zeitschriften, Monographien u.a.) besser als auf dem Niveau ihrer kollokalen Subsysteme (Kongresse oder Institute) gelingen, ihre Massstäbe strikter Überprüfbarkeit aller Wahrheitsansprüche unverfälscht zur Geltung zu bringen.

Während kollokale Systeme also in weitem Umfang in der Lage sind, die für das Gelingen systeminterner Kommunikationen nötigen Bedingungen "mit eigenen Bordmitteln" (allerdings ziemlich unkontrollierbarer Natur) zu erzeugen, so sind translokale Interaktionssysteme auf die Inanspruchnahme institutionell oder gesamtgesellschaftlich verankerter Übertragungsmedien angewiesen und bleiben deshalb sowohl hinsichtlich ihrer Reichweiten wie auch ihrer Erfolgswahrscheinlichkeiten enger an historisch variable sozio-kulturelle Voraussetzungen auf der gesellschaftlichen Makroebene gebunden.

Die Vorstellung, dass im Zuge der gesellschaftlichen Evolution die Ausdifferenziertheit und Belastbarkeit generalisierter Kommunikationsmedien ständig zunehmen (und eine dementsprechend eine zunehmende Verlagerung von kollokaler zu translokaler Interaktion ermöglichen) würde, ist auf Grund mancher spektakulärer historischer Entwicklungen sehr naheliegend, vermag aber der Komplexität der Verhältnisse nicht voll Rechnung zu tragen.

Zwar ist es im Vergleich zu mittelalterlichen Verhältnissen in mancher Hinsicht ein Fortschritt, wenn der Kaiser nicht mehr zum Untertan hinreisen, der Kaufleute ihre Ware nicht mehr bis zum Kunden begleiten, Studenten nicht mehr ihrem Professor nachziehen, Gläubige nicht mehr an die Reliquienstätte pilgern und Philanthropen sich nicht selbst an die Orte des Elends begeben müssen, um ihre spezifische institutionelle Rollenfunktion zu erfüllen.

Solange institutionelle Transaktionen nämlich der Vermittlung durch kollokale Mikrointeraktionen bedürfen, sind sie nicht nur sehr aufwendig und in ihrer Quantität und Reichweite äusserst beschränkt, sondern vor allem auch wenig standardisierbar und unzuverlässig in ihrer Wirkung:

"....denn wo es sich bloss um sachliche Übermittlungen handelt, ist das Reisen einer Person eine äusserste Unbehilflichkeit und Undifferenziertheit: weil die Person eben all das Äussere und Innere ihrer Persönlichkeit, das mit dem gerade vorliegenden Sachverhalt nichts zu tun hat, als Tara mitschleppen muss. Und wenn hiermit auch das Nebenprodukt mancher personalen und Gemütsbeziehung gewonnen wurde, so diente doch gerade dies nicht dem jetzt fraglichen Zwecke: die Einheit der Gruppe fühlbar und wirksam zu machen." (Simmel 1908a: 503).

"Physische Anwesenheit" ist deshalb gerade kein geeignetes Medium, um institutionelle Werte, Normen und Verfahren in idealtypischer Reinheit zu repräsentieren und zu stabilisieren: weil die gegenwärtige Person sich immer integral mit all ihren psysischen und psychischen Attributen ins Spiel bringt und die soziale Beziehung mit Idiosynkrasien und Informalitäten "verunreinigt", die sich teilweise nicht nur der äusseren institutionellen, sondern auch ihrer inneren individuellen Selbstkontrolle völlig entziehen.

Mittels objektivierter Symbolisierungen hingegen wird es möglich, institutionelle Kommunikationen von inhomogenen, unzuverlässigen menschlichen Personen auf standardisierte Artefakte zu übertragen, die überall und zu jedem Zeitpunkt dieselbe gleichmässige Wirkung entfalten:

"Um in einer räumlich ausgedehnten Gruppe die voneinander entfernten Elemente dynamisch zusammenzuhalten, bilden hochentwickelte Epochen ein System mannigfaltiger Mittel aus: vor allem alles Gleichmässige der objektiven Kultur, das von dem Bewusstsein, es sei hier eben dasselbe, was es an jedem Punkt des gleichen Kreises ist, begleitet wird: die Gleichheit der Sprache und des Rechtes, der allgemeinen Lebensweise, des Stiles von Gebäuden und Geräten ...." (Simmel 1908a: 503).

Dadurch werden menschliche Personen andererseits dadurch dafür freigesetzt, ihren räumlichen Aufenthalt unabhängiger von den institutionellen Bezügen, in denen sie drinstehen, festzulegen und zu verändern: so dass sie ihr knappes, unvermehrbares Gut "physische Anwesenheit" besser für den Aufbau kleinerer, informaler Kollokalsysteme auf subinstitutioneller Ebene ausnutzen können.

In Termini von Niklas Luhmann bedeutet dies, dass die beiden Ebenen

  • der durch "Anwesenheit" konstituierten Interaktionssysteme einerseits
  • der auf "Mitgliedschaft" basierenden Organisationssysteme andererseits
sich wechselseitig stärker verselbständigen können: so dass es einerseits mehr Spielräume gibt, in denen Kollokalgruppen sich indifferent (bzw. gar: subversiv-unterminierend) gegenüber den institutionellen Sphäre entfalten können, und die Organisationen andererseits lernen, sich gegenüber An- und Abwesenheit ihrer Mitglieder unempfindlicher zu machen (Luhmann 1975)

Diese Unempfindlichkeit wird wahrscheinlich in dem Masse stärker beansprucht, als die Individuen einen diversifizierteren Rollenset erwerben und ihre höchstens durch Schlafverzicht vermehrbare Gesamtanwesenheitsdauer zwischen immer mehr verschiedenen Kollokalfeldern (Vereinsversammlungen, Kommissionssitzungen, Stammtischrunden u.a.) aufteilen müssen.

Andererseits kann man nun aber auch gegenläufige Entwicklungen konstatieren, in deren Verlauf gerade sehr moderne Institutionen wieder völlig vom Medium kollokaler Interaktion abhängig werden.

Sicherlich wird die Früherziehung des Kindes und grösstenteils auch dessen Schulausbildung heute mehr denn je als ein Prozess interpretiert, der nur im Kontext informeller Primärgruppen verlässlich stattfinden kann: weil man sich auf die Fernmotivierung generalisierter Medien wie Geld, Macht, Liebe oder Wahrheit (deren Semantik ja in der Sozialisation zuerst erlernt werden muss) nicht verlassen kann, und weil andererseits im Erziehungssystem auch kein eigenes institutionelles Übertragungsmedium zur Verfügung steht (vgl. Luhmann/Schorr 1979).

Ebenso kann man im religiösen Bereich mindestens seit der Reformation viele Anzeichen dafür finden, dass kollokale Systeme (z.B. Bibellesegruppen) als Medium der Glaubensvermittlung erhöhte Bedeutung gewinnen: ganz abgesehen von modernen, ostasiatisch inspirierten Sekten, in denen die religiöse Erfahrung oft völlig mit Gruppengemeinschaftserlebnissen oder dem "persönlichen Verhältnis zum Guru" koinzidiert.

Und schliesslich wird an der Proliferation von Geschäfts- oder Dienstreisen sichtbar, dass man Prozesse interaktiven Verhandelns und Aushandelns nach wie vor nur informellen Gesprächen unter Anwesenden überlassen möchte: was die Vermutung bestärkt, dass der Generalisierungsgrad institutioneller Kommunikationsmedien nicht nur evolutionär bedingten, sondern wohl auch absoluten, immanent gesetzten Schranken unterliegt.
 
 

III

Generalisierte Kommunikationsmedien schaffen zwar die motivationalen, noch nicht aber die kognitiven Voraussetzungen dafür, dass Kommunikationen fern vom Ort und Zeitpunkt ihrer Enkodierung aufmerksam wahrgenommen, entschlüsselt und in den Erlebnis- oder Handlungshorizont des rezipierenden Subjekts übernommen werden.

Damit die Botschaft wirklich ankommt und auf zuverlässig vorhersehbare Weise verstanden wird, muss gewährleistet sein, dass enkodierende und dekodierende Akteuren über kongruente Wahrnehmungsfähigkeiten und Interpretationsschemata verfügen.

In dem Masse nun, wie wegen der raum-zeitlichen Trennung der Interaktionspartner

  1. nicht vorausgesehen werden kann, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen situativen Bedingungen (bzw. gar: durch wen) die Dekodierung erfolgt;
  2. zu wenig Rückkoppelung besteht, um Fehler oder Unklarheiten in der Übermittlung rasch identifizieren und korrigieren zu können,
bleibt die Spannweite erfolgreicher Kommunikation auf jene Inhalte eingeschränkt, die einen gegenüber den variablen Bedingungen der Emission und Rezeption unempfindlichen (d.h. sowohl übersubjektiv wie übersituativ stabilisierten) semantischen Kerngehalt besitzen.

Zum Verständnis dieser zweiten, ebenfalls vom evolutionären Niveau der Gesamtgesellschaft und ihrer institutionellen Ordnungen abhängigen, Schranke ist es nötig, sich zuerst ganz prinzipiell über die verschiedenen Modi sozialer Sinnkonstitution und ihr unterschiedliches Verhältnis zu den physisch-räumlichen Bedingungen interindividueller Kommunikation klarzuwerden.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Ereignisse und Dinge aller Art, (und damit auch menschliche Handlungen und deren Ergebnisse) ihren Sinn niemals in substanzialistischer Weise in sich selber tragen, sondern ihn im Rahmen eines seligierbaren "Verweisungszusammenhanges" erst zugewiesen bekommen. Dabei besteht die besondere Eigenart menschlicher Handlungen und Handlungsergebnisse darin, dass sowohl Emittenten wie Rezipienten unabhängig voneinander über die Selektion dieses Rahmens autonom verfügen, und der soziologische Beobachter zudem vor dem Problem steht, ebenfalls eine eigene, dritte Auffassungsperspektive zu wählen und mit derjenigen der Akteure und ihrer Partner in Beziehung zu setzen.

Je nachdem, ob man ein Handeln

  1. selbstreferentiell auf den erzeugenden Akteur (personelle Ebene),
  2. suprareferentiell auf übersubjektiv geltende Symbolstrukturen (institutionell-kulturelle Ebene)
  3. interreferentiell auf interaktive Beziehungen zwischen verschiedenen Subjekten (soziale Ebene)
hin relationiert, erscheint es im Lichte verschiedenartiger, häufig inkommensurabler Deutungshorizonte, von denen her auch die verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen (Psychologie, Kulturwissenschaften, Soziologie) ihre spezifische Prägung erhalten:

"Man wird die historischen Erscheinungen im ganzen auf drei prinzipielle Standpunkte hin ansehen können: auf die individuellen Existenzen hin, die die realen Träger dieser Zustände sind; auf die formalen Wechselwirkungsformen, die sich freilich auch nur an individuellen Existenzen vollziehen, aber jetzt nicht vom Standpunkt dieser, sondern von dem ihres Zusammen, ihres Miteinander und Füreinander betrachtet werden.; auf die begrifflich formulierbaren Inhalte von Zuständen und Geschehnissen hin, bei denen jetzt nicht nach den Trägern oder ihren Verhältnissen gefragt wird, sondern nach ihrer rein sachlichen Bedeutung, nach der Wirtschaft und der Technik, nach der Kunst und der Wissenschaft, nach den Rechtsnormen und den Produkten des Gefühlslebens." (Simmel 1908d: 13.).
 
 

1) Selbstreferentielle Orientierung: "Subjektiver Sinn"

Der "subjektive Sinn" ergibt sich dadurch, dass man als Referenzrahmen den erzeugenden Akteur wählt und die zu deutenden Handlungen auf seine übrigen Verhaltensweisen, Erlebnisse, Motive, Intentionen, Affekte, Qualifikationen u.a. hin relationiert. Normalerweise ist es der Akteur selbst, der vorrangig diese selbstreferentielle Perspektive wählt, weil er zu seinen internalen Zuständen und Prozessen (zumindest, soweit sie in seinem Bewusstseinsfeld fassbar sind) einen weitaus besseren Zugang als alle Aussenstehenden besitzt: Ich allein weiss am besten, warum ich jetzt diese bestimmte Arbeit tue, genau in diesem Moment auf ein bestimmtes Thema zu sprechen komme, und welche Absicht ich mit dem Eintritt in eine Vereinigung oder der Aufkündigung einer Freundschaft verbinde. Wahrscheinlich ist jeder Akteur unablässig genötigt, seine eigenen Handlungen mit "subjektivem Sinn" auszustatten: weil er anders als durch ständige Selbstattribution von "Weil-Motiven" und "Um-zu-Motiven" wohl nicht in der Lage wäre, seinem Erleben und Handeln Konsistenz zu verleihen und im Wechsel der Bewusstseinsinhalte und Ereignisse seine Identität zu wahren.

Andererseits können auch beliebige Fremdbeobachter die selbstreferentielle Perspektive des handelnden Akteurs usurpieren: sofern sie sich in der Lage fühlen, sein Verhalten als Korrelat eines "inneren Motivationszusammenhangs" nachzukonstruieren oder als Ausdruck einer bestimmten Persönlichkeitskonstellation zu "verstehen".

Fremdzugerechnete Selbstreferenzen können gegenüber den Eigenzurechnungen des Akteurs oft sogar in Führung gehen, obwohl Aussenstehenden der Zugang zum innerpsychischen Erleben des ALTER EGO völlig fehlt: z.B. wenn EGO einen Psychotherapeuten braucht, um seine eigenen, bisher unbewussten Motivationen in die Reflexion einzubeziehen, oder wenn er die Beweggründe oder Ergebnisse seiner Handlungen äusseren Gegebenheiten zurechnet ("situative Attribuierung"), während ALTER sie als Ausdruck seiner Persönlichkeit ("dispositionale Attribuierung") interpretiert (vgl. Jones/Nisbett 1971).

Charakteristisch für die Konstitution von "subjektivem Sinn" ist in jedem Fall, dass das Handeln vorrangig weder unter dem Gesichtspunkt seines aktuellen Verhaltensablaufs noch seiner schliesslichen Ergebnisse ins Zentrum des Interesses rückt, sondern unter dem Blickwinkel seiner intrasubjektiven Antezedenzbedingungen und Begleitkorrelate, die der ganz andersartigen Ebene des Psychischen angehören und häufig sogar dem Akteur selbst nur in der Form abstrakter Konstrukte ("ich bin halt ehrgeizig", oder: "ich bin in meinem Beruf im grossen und ganzen glücklich") zur Verfügung stehen. Entsprechend dem strengen Nacheinander subjektiver Erlebnisse und Handlungen können sich subjektive Sinnzusammenhänge meist nur im Horizont umfänglicher diachroner Zeitperspektiven konstituieren: z.B. wenn man eine Untat als Ergebnis langer jugendlicher Verwahrlosung oder als Vergeltung eines früher erfahrenen Unrechts deutet, oder wenn man die Vorstellung eines weit in die Zukunft reichenden "Handlungsentwurfs" beizieht, um EGO`s aktuelles Engagement in Schule, Beruf, Politik u.a. adäquat zu verstehen.

Auch wenn eine durch räumliche Nähe konstitutierte "umweltliche Situation" entgegen der Meinung von Schütz mir keineswegs erlaubt, unmittelbar "auf die Erlebnisse des Du hinzublicken" (vgl. Schütz, 1974: 228), so ist Kollokalität in mancher Hinsicht eine günstige Voraussetzung, um via Empathie und/oder kommunikative Verständigung Zugang zur Innenperspektive eines ALTER EGO zu gewinnen: sofern ich in der Lage bin, seine Verhaltensweisen als Ausdruckskundgaben seiner Subjektivität zu deuten oder mittels reger verbaler Kommunikation zumindest die seiner eigenen Propriozeption zugänglichen Gefühle, Absichten u.a. zu ergründen.

Andererseits kann Kollokalität die Fremderfassung von subjektivem Sinn aber auch drastisch behindern: weil die Erfassungsperspektive oft ganz ungebührlich auf das aktual beobachtbare "Mikrohandeln" zusammenschrumpft (vgl. 3.4), weil gleichläufig mit den Ausdrucksmöglichkeiten auch die Chancen erfolgreicher Täuschung und Camouflage wachsen, und vor allem: weil ein ganz andersartiger, von Schütz unberücksichtigter Modus "interreferentieller Sinnkonstitution" (vgl. unten) die Führung übernimmt.
 
 

2) Suprareferentielle Perspektive: "objektiver Sinn"

Die Welt des "objektiven Sinns" ist identisch mit der Welt der Symbole, die ihre Bedeutung aus einem kulturell definierten wechselseitigen Verhältnis zueinander beziehen und dank dieser "horizontalen Einbettung" (in umfassendere Symbolsysteme) einen von ihrer "vertikalen Einordnung (in subjektive Bewusstseins- und soziale Interaktionssysteme) unabhängigen, d.h. kontextfreien, semantischen Kerngehalt besitzen.

Konstitutiv für den sinnhaften "Verweisungshorizont" objektiver Symbole sind also übersubjektiv wie auch "überkommunikativ" verselbständigte symbolische Ordnungen, deren Elemente durch Regeln der Logik, der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit, der gemeinsamen Herkunft, der kausalen Wirkungsgesetze oder irgendwelche anderen Prinzipien in distinktiven und/oder kontextuellen semantischen Relationen zueinander stehen.

Eine rein distinktive Bestimmungsrelation besteht, wenn sich der Sinn des Symbols ausschliesslich aus seinem komparativen Bedeutungsverhältnis zu anderen Symbolen ergibt: z.B. bei formalisierten Zeichenstrukturen, wo jedes Element eine exakt festgelegte und in allen Beziehungen, in denen es auftritt, identisch bleibende Bedeutung beibehält. So ist etwa die semantische Invarianz der Zahl "5" oder des Operationszeichens "+" nicht nur über alle individuellen und sozialen Verwendungskontexte, sondern auch über alle mathematischen Gleichungs- und Modellstrukturen hinweg gesichert.

Eine völlig kontextuelle Bestimmungsrelation besteht umgekehrt z.B. bei rein "indexikalischen" Ausdrücken wie "hier", "ich" oder "jetzt", die ausschliesslich im grösseren Zusammenhang eines Sprachtextes (konnotativ) oder einer konkreten Situation (denotativ) interpretierbar sind, oder bei einzelnen Federstrichen, Farbtupfern oder Tönen, die je nach der übergeordneten "Gestalt" (Gemälde, Zeichnung, Melodie u.a.) in die sie eingebettet sind, eine ganz unterschiedliche Wahrnehmungswirkung erzeugen.

Häufig kann sich die Determinationskraft des "objektiven Sinns" nur beim Zusammenwirken distinktiver und kontextueller Relationierungen voll entfalten. So erhält der simple Satz "es regnet" allein durch seine distinktiven Verweisungen (dass es nicht schneit, nicht hagelt u.a.) einen minimalen, über alle Verwendungszusammenhänge hinweg stabilisierten Kerngehalt an Sinn; aber wenn das situative Umfeld zusätzlich dazu verhilft, ihn als "typisch englischen Dauerregen", als seltenes Wunderereignis in der Sahara oder als Begleiterscheinung eines Orkangewitters zu identifizieren, gewinnt er doch beträchtlich an Konturen.

Rein distinktive intersymbolische Bestimmungen haben den Vorteil, dass objektiver Sinn in beliebig kleiner Münze universell transportierbar ist, und dass verlässliche "Bausteine" für die intentionale Konstruktion höherrangiger Symbolstrukturen (z.B. mathematische Gleichungssysteme oder formalisierte Computer-Simultationsmodelle) zur Verfügung stehen. Aber man muss diese Vorzüge teuer damit kaufen, dass nur standardisierte "Sinnatome" mit unverrückbar fixierter Bedeutung verfügbar sind, die sich nur akzeptieren oder zurückweisen, nicht aber flexibel an veränderte Ausdrucksbedürfnisse adaptieren lassen.

Umgekehrt kann man es sich bei kontextuellen intersymbolischen Relationen erlauben, die Bedeutung elementarer Symbole offen zu halten und (wie z.B. in poetischen Texten) jeweils holistisch von der Ebene eines umfassenden Symbolzusammenhanges her respezifizieren zu lassen; aber dazu muss es allerdings erst gelingen, die integrale Rezeption dieses übergeordneten Symbolkomplexes sicherzustellen.

Überall wo die Einzelsymbole durch distinktive Relationen hinreichend semantisch spezifiziert sind, kann ein "restringierter Kommunikationscode" ausreichen, um erfolgreiche Übertragung zu sichern: z.B. bei Angehörigen niedrigerer Sozialschichten, die viele Begriffe in stereotypisierter Weise zu verwenden pflegen (vgl. Bernstein 1964) oder in paradigmatisch gut konsolidierten wissenschaftlichen Disziplinen, deren Vertreter alle sehr spezifische Vorverständigungen über die Bedeutung ihrer Terminologie miteinander teilen.

Umgekehrt sind zur Erzeugung von "objektivem Sinn" aufwendige und risikoreiche Kommunikationen nötig, wenn die Einzelsymbole (noch) unscharf definiert sind und/oder wenn die einzelnen Anwender Wert darauf legen, über ihre Semantik autonom zu verfügen: z.B. bei Angehörigen der Mittelschichten (vgl. Bernstein 1970: 113) oder den Wissenschaftlern einer paradigmatisch uneinheitlichen Disziplin, die einen relativ hohen Anteil an "semantischer Spezifikation" innerhalb des konkreten Kommunikationsaktes selber leisten müssen und sich untereinander deshalb nur durch einen höchst "elaborierten Code" verständlich machen können (Lodahl/Gordon 1972).

Fragt man nach dem "objektiven Sinn" einer Handlung, kommt - genau entgegengesetzt zum "subjektiven Sinn" - als Gegenstand ausschliesslich das Ergebnis eines abgeschlossenen Handlungsvorgangs in Betracht; sei es in der Form einer ex post überblickbaren Gestalt von Bewegungsabläufen (Tanz, religiöser Ritus u.a.), als physische Bewirkungen in der Umwelt (Vase zerschlagen, Kind gezeugt), die mit den subjektiven Intentionen bekanntlich in sehr variablem Zusammenhang stehen können, oder schliesslich in Form materialisierter Erzeugnisse (Schriftstücke, Zeichnungen, Produktionswaren), die sich vom Kontext ihrer handlungsmässigen Genese völlig loslösen können:

"Objektiven Sinn können wir hingegen nur einem Erzeugnis als solchem prädizieren, also dem fertig konstituierten Sinnzusammenhang des Erzeugten selbst, dessen Erzeugung in polythetisch aufbauenden Akten im fremden Bewusstsein von uns unbeachtet bleibt." (Schütz 1974: 48).
 
 

3) Interreferentielle Sinndeutung: "kommunikativer Sinn"

Die dritte eigenständige Strategie der Sinndeutung besteht darin, einen Akt auf den konkreten Zusammenhang intersubjektiver Wechselwirkungen, Kommunikationen und Erwartungen zu beziehen, innerhalb dem er sich vollzieht: d.h. ihn im Licht einer sozialen Situation zu interpretieren, wie sie sich durch die Gesamtheit der von mehreren Subjekten gemeinsam erzeugten interaktiven Prozessabläufe und kommunikativen Verständigungen ergibt.

So lässt sich z.B. der genaue Sinn eines Satzes wie "Du hast mich enttäuscht" weder aus seinem objektiv-sprachlichen Gehalt noch aus der subjektiven (z.B. emotionell bestimmten) Motivation des Sprechers hinlänglich erschliessen: weil erst aus der Kenntnis der interpersonellen Gesamtsituation klar wird, ob es sich dabei um einen ironischen Einwurf, einen milden Tadel, eine unkontrollierte Taktlosigkeit oder eine absichtliche Beleidigung handelt. Ebenso kann die harmlose Bemerkung "es regnet draussen" je nach dem Stand der Konversation die Funktion haben, eine peinliche Verlegenheitspause zu überbrücken, eine Aufforderung zum Spazierengehen abzuwehren oder von einem unerwünschten anderen Gesprächsthema abzulenken.

Und der Sinn des täglichen Arbeitens erschöpft sich für mich meistens nicht darin, eine gesellschaftlich institutionalisierte Berufsfunktion auszufüllen ("objektiver Sinn") oder meine Chancen der materiellen Existenz und zur persönlichen Selbstentfaltung zu sichern ("subjektiver Sinn"); vielmehr wird sich die Frage, warum gerade ich gerade jetzt gerade dies tue, häufig nur in Anbetracht der Tatsache beantworten lassen, dass ich mich von Erwartungen, Verpflichtungen, Bitten oder Sanktionsandrohungen leiten lasse, die von Vorgesetzten, Kollegen, Untergebenen oder Klienten an mich herangetragen werden.

Insbesondere bei der Einbettung in arbeitsteilige Interdependenzen kann die interreferentielle Orientierungsebene eine hohe eigenständige Determinationskraft entfalten und die Akteuren davon entlasten, permanent nach dem "subjektiven Sinn" jeder einzelnen Handlung zu fragen oder durch starre Anlehnung an standardisierten Deutungsschemata für einen präzisen "objektiven Sinn" ihres Verhaltens zu sorgen.

Der Einschluss dieser dritten, in strengster Auffassung des Wortes "soziologischen" Referenzebene der Sinnkonstitution bedeutet eine Transzendierung der durch Durkheim, Weber und Schütz etablierten "klassischen" Handlungstheorie, bei der sich das Phänomen des Sozialen in geheimnisvoller Weise aus der Verknüpfung eines eher psychisch fundierten "subjektiven Sinnes" und eines eher der kulturellen Sphäre angehörigen "objektiven Sinnes" konstituiert (vgl. Coenen 1985: 183).

Stattdessen wird hier die intermediäre Sphäre des "Intersubjektiven" dazu beansprucht, um zwischen der reinen Innenwelt des "Subjektiven" und der reinen Aussenwelt des "Übersubjektiven" eine Brücke zu schlagen.

Während man sich beim "subjektiven Sinn einseitig auf die intrapersonellen Antezendenzen und beim "objektiven Sinn" ebenso ausschliesslich auf die extrapersonellen Konsequenzen des Handelns konzentriert, richtet sich die interreferentielle Blickrichtung primär auf das: d.h. auf jene leiblichen Bewegungsabläufe, die ihren primären Sinn weder aus subjektiven Intentionen noch aus übersubjektiven Konventionen, sondern aus ihrem Verhältnis zu den Verhaltensweisen anderer (immer kollokal mitanwesender) Interaktionspartner beziehen.

Genauso wie Georg Simmel sich an kollokale Interaktionsverhältnisse halten muss, um seinem Basiskonzept der interindividuellen "Wechselwirkung" maximale Relevanz und Eigendeterminationskraft abzugewinnen, muss auch Merleau-Ponty die elementare Bedingungskonstellation raum-zeitlich ko-präsenter Menschen in Anspruch nehmen, um behaupten zu können, dass das Soziale in einer allem subjektiven und objektiven Sinn vorangehenden "zwischenleiblichen Vergemeinschaftung" seinen Ursprung habe:

"Gebe ich einem Freund ein Zeichen, zu mir herüberzukommen, ist meine Intention nicht ein Gedanke, den ich in meinem Inneren hegte, noch nehme ich das Zeichen in meinem Körper wahr. Ich mache das Zeichen durch die Welt hindurch, ich mache es dort, wo mein Freund sich befindet, der Abstand, der mich von ihm trennt, seine Zustimmung oder Ablehnung spiegeln sich unmittelbar in meiner Bewegung, es liegt keine Wahrnehmung vor, der eine Bewegung folgt. Wahrnehmung und Bewegung bilden nur ein System, das als Ganzes sich modifiziert." (Merleau-Ponty 1965: 136f.).

Subjektivierte und objektivierte Sinngehalte können als sekundäre Verselbständigungen aus diesem ursprünglichen Verhältnis anonymer "Zwischenleiblichkeit" begriffen werden und werden von dieser genetischen Ebene her ständig dynamisiert:

  • jedem "Sich-Verhalten" liegt ein "Sich-Zusammen-Verhalten" zugrunde, dessen Sinn aus den Komplementaritätsrelationen der beteiligten Individuen emergiert;
  • alle übersubjektiv geltenden Sinnstiftungen (Normen, Sprache, Wertmassstäbe) sind das Ergebnis andauernd voranschreitenden "Instituierens" im elementarien Medium zwischenleiblicher Interaktion (Merleau-Ponty, M., 1966:60).
Nur nachträglich und partiell können die interreferentiellen Sinnstiftungen durch bewusste Reflexion eingeholt oder in objektivierten Symbolstrukturen abgebildet werden: so dass sie gegenüber allem subjektiven und objektiven Sinn eine unanfechtbare Führungsrolle behaupten.

Auch wenn man Merleau-Pontys Auffassung von der Fundamentalität zwischenleiblich konstituierter Sozialität nicht völlig zu folgen vermag, liefert er durch sein eminent soziologisches Theoretisieren wichtige zusätzliche Gründe, um

  1. "Interreferenz" als einen eigenständigen dritten Modus der Sinnkonstitution gelten zu lassen,
  2. die Hypothese zu stützen, dass interreferentieller Sinn im Medium kollokaler Interaktion seine weitaus besten Entfaltungschancen findet, währen translokale oder alokale Sozialität stärker darauf verwiesen ist, sich auf "objektiven Sinn" und oder auf "subjektiven Sinn" abzustützen.
Diese Proposition stimmt nur teilweise mit der Auffassung von Alfred Schütz überein, der in "umweltlichen" (=kollokalen) Sozialbeziehungen vor allem die Chance sieht, objektive Deutungsschemata durch verstärktes Fremdverstehen von subjektivem Sinn zu substituieren:

"In der umweltlichen sozialen Beziehung wachsen dem Ich aus der Fülle des Wissens vom Jetzt und vom Du in gleicher Fülle in jedem Jetzt neue Deutungsschemata vom Du zu: sein Erfahrungsvorrat vom Du bereichert sich in jedem Augenblick des Wir und er verändert sich auch durch stetige Berichtigung." (Schütz 1974: 235/236).

Demgegenüber wird postuliert, dass die Situation des "Wir" vorrangig die Chance mit sich bringt, dass sich die Beteiligten an übergreifenden Gemeinsamkeiten ihrer intersubjektiven Beziehung, ihrer komplementären oder konfliktiven Interdependenzen oder ihrer Situation gegenüber der äusseren Umwelt orientieren: d.h. an all jenen Fakten, die ihrer gemeinsamen Erinnerung oder ihrer gemeinsamen sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sind. Vor allem für multilaterale Interaktionsverhältnisse mag gelten, dass die Teilnehmer sowohl ihre eigenen Handlungen wie auch die Deutungen fremder Handlungen vorrangig an Parametern der umfassenden Gruppenstruktur sowie am Fluss gemeinsamer Kommunikationen, Arbeitsabläufe usw. orientieren, und zutreffenderweise unterstellen, dass auch ihre Interaktionspartner genau dies tun.

Entsprechend kann es nützlich, ja unumgänglich sein, die eigenen Verhaltensakte nicht mit einem allzu präzis definierten und starr fixierten subjektiven oder objektiven Sinn auszustatten, sondern sie als offene, unscharf konturierte "Kommunikationsangebote" in den sozialen Kreis zu werfen, um sie den im interreferentiellen Milieu stattfindenden Spezifikationsprozessen auszuliefern.

Diesem sich während des raum-zeitlichen Zusammenseins ständig erneuernden Bedarf nach "strategischer Unterbestimmtheit" entspricht die Tendenz, selbst bei unbegrenzten Fähigkeiten und Möglichkeiten der Verbalisierung den Kommunikationsprozess relativ stark auf nonverbale Gebärden (Gestik, Mimik, u.a.) abzustützen, die im Unterschied zu Worten weniger stark durch einen kulturell konventionalisierten "objektiven Sinn" geprägt sind und wegen der engen Begrenztheit des Repertoires (vgl. 2.4) für verschiedenste Sinngehalte in Anspruch genommen werden.

Die mit dem rein physischen Faktum kollokalen Beisammenseins einhergehenden "Despezifizierungen" scheinen dermassen verlässlich aufzutreten, dass man sie systematisch dazu benutzen kann, um erstarrte Sinnstrukturen wieder zu "verflüssigen" und dadurch für neue, andersartige Respezifikationen verfügbar zu machen. Dies zeigt sich z.B. in Verhandlungsprozessen zwischen gegnerischen Staaten, Armeen oder Verbänden, wo bereits der Entschluss zur Teilnahme eine generalisierte Bereitschaft indiziert, sich den nur partiell kontrollierbaren Wechselprozessen kollokaler Interaktion auszuliefern und Geburtshilfe für neuartige (über die bisherigen Erwartungshaltungen und Kompromissbereitschaften der Teilnehmer hinausgehende) Konfliktlösungen zu leisten.

Vor allem die mit extremer Körpernähe einhergehenden sozialen Systembildungen (z.B. Sexualbeziehungen, Massenaufläufe u.a.) dienen häufig dem Zweck, jene elementar-unspezifische Ausgangsbasis physischer Interpersonalität zu revitalisieren, in dem alle komplexeren, vermittelteren Sozialverhältnisse (auf Gruppen-, Organisations- und Institutionsebene) ihre genetische Wurzel haben (Rittner 1983).

Diese Rückkehr zum "Status naturalis" kann die ambivalente Funktion haben, diese derivierteren, vom physischen Beisammensein unabhängigeren Sozialverhältnisse:

  • einerseits zu validieren: indem sichtbar wird, dass sie mit ihrer "authentischen Entstehungsbasis" nach wie vor in engem Zusammenhang stehen,
  • andererseits zu unterminieren: indem ein Zustand der Entspezifiziertheit und unkontrollierter Prozessualität hergestellt wird, von dem aus neuartige, nicht voraussehbare Beziehungsstrukturen ihren Ausgang nehmen können.
So vermag ein Staatsmann, der "das Bad in der Menge" sucht, einerseits seine politische Herrschaftsstellung durchaus zu befestigen, weil es ihm gelingt, seiner formellen Autoritätsstellung den Nimbus öffentlicher Popularität hinzuzufügen; andererseits muss er aber hinnehmen, dass er seine politische Reputation dadurch stärker von nichtinstitutionellen Faktoren (seiner persönlichen Erscheinung, Ausstrahlung u.a.) abhängig macht, die sich seiner Kontrolle weitgehend entziehen, und dass er durch seine Rolle als populistischer Führer zunehmend zu Handlungen genötigt werden mag, die mit seiner formellen Position im Widerspruch stehen.

Ebenso können sexuelle Verhaltensweisen die problematische Doppelfunktion haben, die Kontinuierung eines Liebesverhältnisses einerseits prägnant zu dokumentieren, andererseits aber verstärkt von Faktoren abhängig zu machen, die (wie z.B. die wechselseitige körperliche Erregbarkeit, physiologische Potenz u.a.) der intentionalen Kontrolle weitgehend entziehen.

Als funktionales Äquivalent zu Charisma kann kollokale Interaktion also dazu beitragen, strukturelle Fixierungen und Spezifizierungen aller Art zu erodieren und innerhalb sozialer Systeme einen Zustand "frei flottierender Valenzen" wiederherzustellen, der vor allem dann wichtig ist, wenn es gilt, im Hinblick auf stark veränderte äussere Umweltbedingungen oder innere Mitgliederzusammensetzungen neuartige, von der bisherigen Systemgeschichte unabhängige Strukturbildungsprozesse zu vollziehen (vgl. Geser 1983: 81ff.).

Ähnlich wie bei vielen andern Manifestationen der "Renaturalisierung" (z.B. bei der Hinwendung zum "einfachen Landleben", zur Rohkost oder zum künstlerischen Naturalismus) geht das Bestreben oft dahin, den (vermeintlich) exogen vorgegebenen und unbeeinflussbaren (eben "natürlichen") Zuständen und Prozessen mehr Orientierungseinfluss auf das Erleben und Handeln zuzugestehen und in die Spontaneität elementarer interpersoneller Wechselwirkungen grössere Hoffnungen als in die Kontinuierung bisher gepflegter (aber als artifiziell und kontingent durchschauter) Beziehungsformen zu setzen (vgl. Rittner 1983).
 
 

Bei translokalen Interaktionsverhältnissen tragen demgegenüber zwei Faktoren dazu bei, die eigenständige Determinationskraft der interreferentiellen Steuerungen stark zu vermindern:

  1. Es fehlt das einigende Band der gemeinsamen aktuellen Situation, die eine konvergente Fokussierung der Aufmerksamkeit auf "diese unsere Interaktionsbeziehung" und "diese unsere Umwelt" nahelegen und wechselseitig erwartbar machen würde (vgl. 3.6). Stattdessen müssen translokale Partner ihre Kommunikation unter der erschwerten Bedingung zustandebringen, dass sich jeder bei der Enkodierung (bzw. Dekodierung) an seinem eigenen, wechselseitig nicht wahrnehmbaren situativen Umfeld orientiert.
  2. Es fehlen die dichtgewobenen Kommunikationskanäle, die dazu benutzt werden könnten, um bei Verständnislücken nachzufragen, bei Bedarf Zusatzerläuterungen nachzuliefern, halbwegs ausgeführte Demarchen rechtzeitig rückgängig zu machen oder auf die unerwartete Akzeptanz versuchsweiser Äusserungen gleichsinnige Bestärkungen folgen zu lassen - kurz: in arbeitsteiliger Symbiose einen gemeinsamen intersubjektiven Sinn zu erzeugen, der sich sowohl gegenüber der Ebene subjektiver Intentionen wie auch der Sphäre kultureller Konventionen deutlich profiliert.
Unter solchen Umständen sind physisch objektivierte und konsensual gedeutete Symbolisierungen notwendig, damit die Auffassungsperspektiven verschiedener Kommunikationspartner
  1. über das Faktum, dass Kommunikationen von bestimmter äusserer Form überhaupt vorliegen,
  2. über den semantischen Gehalt, der diesen gemeinsam identifizierten Kommunikationen zugeschrieben werden soll
zur Deckung gelangen.

Die "Objektivität des Sinnes" muss nun auf jener fundamentaleren Objektivität aufrufen, wie sie sich aus der unnegierbaren übersubjektiven Geltung des Real-Gegenständlichen ergibt. Als notwendige (niemals hinreichende) Bedingung translokaler Verständigung muss deshalb ein physisches Trägersubstrat (Werkzeug, Bauwerk, Schrifttext, Fotostreifen, Diskette u.a.) vorliegen, so dass eine Basisebene gemeinsamer sinnlicher Wahrnehmung gesichert ist, auf der die Auffassungsperspektiven der emittierenden und rezipierenden Subjekte zwanglos zur Deckung gelangen.

Durch die Benutzung physischer Trägersubstrate allein werden die Probleme translokaler Kommunikation aber keineswegs gelöst, sondern im Gegenteil noch drastisch erhöht. Denn das Dazwischentreten eines gegenüber dem Kontext seiner Erzeugung wie auch seiner Rezeption gleichermassen verselbständigten dinglichen Gegenstandes hat zur Folge, dass zwischen Enkodierungs- und Dekodierungsprozessen einerseits wie auch zwischen den Dekodierungsprozessen verschiedener Rezipienten alle intrinsischen Zusammenhänge verlorengehen: so dass sie - soll Kommunikation gelingen - auf ganz neue, artifizielle Weise wieder miteinander koordiniert werden müssen. Zusätzlich zum Erzeugungsprozess sind deshalb besondere Anstrengungen erforderlich, damit das neuerlassene Gesetz auch zur Kenntnis genommen wird, das neue Konsumgut ins Alltagsleben Eingang findet, die neuen lokalen Radiosender ihre Zuhörer oder rücksichtslos modernistische Kunstwerke auch ihre Bewunderer finden Und sowohl Messerfabrikanten wie Kernphysiker, Apotheker wie Enthüllungsjournalisten müssen damit leben, dass ihre Produkte nicht auf einen bestimmten intendierten Zweck ihrer Verwendung hin prägbar sind, sondern sowohl für konstruktive wie destruktive, für lebenserhaltende oder todesbringende Ziele funktionalisiert werden können.

Gerade weil das Erzeugnis mit keinen hinreichenden Verweisungen auf die Prozesse seiner Entstehung und die Intentionen seiner Produzenten belastet ist, ist es dafür befreit, mit einer davon völlig unabhängigen Bedeutung ausgestattet zu werden und in beliebig variable Situationszusammenhänge und Kombinationen mit andern derartigen Erzeugnissen einzutreten. So können beispielsweise Bibeltexte, Genrebilder, Staatsverfassungen oder elisabethanische Tragödien selbst bei drastischem soziokulturellem Wandel ihre unbestrittene Relevanz beibehalten, weil nichts dazu zwingt, vom buchstäblichen Text auf den "Geist" der ursprünglichen Verfasser zu schliessen: genauso wie sich die Barockmusik gegenüber ihrem höfischen oder kirchlichen Entstehungskontext dermassen verselbständigt hat, dass sie sich in äusserst profanisierten "bürgerlichen" Verwendungskontexten als assimilierbar erweist.

Die mit der Abkoppelung vom Enkodierungskontext einhergehende "semantische Unterbestimmtheit" ist einerseits äusserst wichtig, wenn es darum geht, einem Stück materialisierter Kultur lange Überlebensdauer, universelle Diffusionschancen und vielfältigste sachliche funktionale Kombinationsmöglichkeiten zu sichern: so dass wahrscheinlich gerade moderne (d.h. komplexe und sich dynamisch wandelnde) Gesellschaften zur Bevorzugung hochgradig unspezifizierter materieller Sinnsubstrate tendieren, die (wie z.B. Autos, Computers, Verfahrensgesetze, Geldscheine, Menschenrechte oder zivile Höflichkeitsformen) im beliebigen, unvorhersehbarem Wandel ihrer Applikationskontexte eine gesicherte, gleichbleibend hohe Geltung bewahren.

Andererseits st dieselbe Unschärfe und projektive Manipulierbarkeit des Sinngehalts ein lästiges Hindernis, wenn das vorrangige Ziel darin besteht, präzise, erfolgssichere translokale Kommunikation zustandezubringen und im Verhältnis zwischen den Partnern wechselseitig erwartbar zu machen.

Nicht durch die immanenten Eigenheiten des Artefaktes selbst, sondern nur durch dessen dauerhafte Amalgamierung mit übersubjektiven idealisierten Deutungsmustern kann garantiert werden, dass es bei allen enkodierenden und dekodierenden Akteuren in einem gewissen Umfang identische Sinnverweisungen evoziert: unabhängig davon, in welchem subjektiv oder intersubjektiv konstituierten Bedeutungskontext und welchem sozialen Situationszusammenhang sich seine Wahrnehmung und Entschlüsselung vollzieht.

Derartige soziale Vermittlungsmechanismen werden in dem Masse entlastet, als die materiellen Trägersubstrate so gebaut sind, dass sie die Inhalte, auf die sie in ihrer Eigenschaft als "Symbole" verweisen, in ihrer zweiten Eigenschaft als "reale Gegenstände" gleichzeitig mittransportieren.

Während reine Symbole heteroreferentiell sind, weil sie immer durch einen ihnen äusserlichen Akt konventioneller Setzung auf ein (dafür allerdings variabel definierbares) "Bedeutetes" hingeordnet werden müssen, so sind physische Gebrauchsgegenstände in dem Sinne" autoreferentiell", als ihnen die Fähigkeit zukommt, Bedeutendes und Bedeutetes, bzw. "Verweisungen" und "Erfüllungen" im Medium desselben physischen Substrats zu fusionieren.
 
 

So besteht beispielsweise die doppelte Orientierungsfunktion einer realen Autostrasse darin, dass sie

  1. einerseits wie eine auf der Landkarte gezeichnete Strasse allen Automobilisten die identische Vorstellung evoziert, darauf richtungssgetrennt mit bestimmter Geschwindigkeit fahren zu können,
  2. Im Gegensatz zur Landkartenstrasse aber auch jene faktischen physischen Merkmale aufweist, die eine Erfüllung dieser evozierten Intentionen möglich machen.
Die Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit objektivierter Sinnstrukturen entsteht dadurch, dass zwischen der Ebene übersubjektiver Idealisierungen einerseits und dem Niveau physischer (vor allem: anorganischer) Trägersubstrate andererseits unter weitgehender Umgehung individueller Bewusstseins- und interindividueller Kommunikationsprozesse äusserst stabile Amalgamverbindungen eingegangen werden. und zwar deshalb, weil ausgerechnet anorganische Substrate gewisse Bedingungen "idealisierter Gegenständlichkeit" (Zeitenthobenheit, konvergente Wahrnehmbarkeit, Identitätserhaltung in verschiedensten Kontexten) besonders gut erfüllen.

So kann "man" sich beim blossen Anblick bestimmter Gegenstände nicht einmal unter grössten Anstrengungen von der Vorstellung freimachen, ein Handwerkszeug namens Hammer, ein Fahrzeug namens "Auto" oder eine schützende Unterkunft namens "Hütte" vor sich zu haben, und fast unmöglich ist es, jene Schnittlinie freizulegen, welche das (kulturunabhängige) Physisch-Gegenständliche vom (kulturgebundenen) standardisierten Deutungsschemata trennt, wenn es sich derart auflöslich mit dem dinglichen Substrat verbindet.

Nur im äussersten Grenzfall allerdings (z.B. bei automatisierten Spezialmaschinen) geht diese dem Gegenstand inhärente (d.h. von sozialen Prozessen unabhängige und durch sie nicht modifizierbare) Sinnprägung derart weit, dass man mit dem Artefakt nur auf eine bestimmte Weise (oder dann überhaupt nicht) umgehen kann. Aus dem spielerischen und phantasiereich-devianten Umgang kleiner Kinder mit täglichen Gebrauchsobjekten wird deutlich genug, dass auch hoch spezifizierte Artefakte nur im Rahmen aufwendiger (allerdings meist impliziter und averbaler) Sozialisationsprozesse ihren stabilen, kulturell verankerten Bedeutungsgehalt gewinnen:

Deshalb gilt auch hier, dass translokale Interaktionen von Voraussetzungen abhängig sind, die vorgängig in dichter gewobenen (d.h. stärker an Kollokalität gebundenen) Interaktionskontexten hergestellt werden müssen.

Je weniger das Artefakt auf Grund seiner intrinsischen Form- und Funktionsmerkmale einen bestimmten Sinn (z.B. Verwendungszweck, bildhafte Repräsentation u.a.) nahelegt oder gar erzwingt, desto mehr Aufwand an Definitionsarbeit, Sozialisation und sozialer Kontrolle muss betrieben werden, um diesen invarianten semantischen Gehalt entstehen zu lassen und über lange Zeiträume, verschiedenartige Individuen und Gruppen sowie heterogene Situationszusammenhänge hinweg zu sichern. Nur in Reichweite kirchlicher Autorität gelingt es, den eucharistischen Symbolgehalt von Wein und Brot als Blut und Leib Christi zuverlässig zu tradieren; und die dauerhafte Aktivierung unzähliger familiärer und schulische Sozialisationsfelder ist nötig, um eine "lebende Sprache" mit der Semantik all ihrer Wörter und Satzbildungen aufrechtzuerhalten.

Translokale Interaktionen zehren hier "parasitär" von Ergebnissen intersubjektiver Sinnkonstitutionen, deren Genese auf aktive, normalerweise ans Medium kollokaler Interaktion gebundene Verständigungsprozesse zurückgeführt werden kann, und die auch häufig nur innerhalb derartiger Felder (z.B. im Rahmen frühkindlicher oder schulischer Sozialisation) zuverlässig tradiert werden können.

In dem Masse, wie soziale Interaktion sich aus ökologischen Bindungen (d.h. aus der Abhängigkeit von synchroner Anwesenheit der Teilnehmer im selben Raumabschnitt) befreit, muss sie sich umso härteren Restriktionen kultureller Art unterziehen: durch konforme Einbettung in exogen erzeugte, während des Interaktionsprozesses unverfügbare Sinnfixierungen, die in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht eine generalisierte Geltung besitzen:

  1. Die zeitliche Generalisierung bedeutet, dass man sich gerade jetzt auf Symbolschemata verlassen muss, die irgendwann früher ihre aktuellen, "stabilen", jederzeit identisch reaktualisierbaren Inhalte gewonnen haben. Daraus entsteht die typische Vergangenheitsbindung translokaler Interaktionen: ihr Hang zur "Traditionalisierung", der hinreichend erklärt, warum kollokale Kommunikationsfelder (z.B. im Rahmen von Urbanität) gerade in modernen, dynamischen Gesellschaften eine unangefochtene Bedeutung beibehalten.
  2. Die sachliche Generalisierung heisst, dass man sich gerade in dieser konkreten Situation mit Hilfe von abstrahierten und universalisierten Deutungsschemata ausdrücken muss, die (wie z.B. Redewendungen in Briefen, Glückwunschkarten, Geschenkobjekte usw.) in identischer Form für eine Vielzahl variabler Anwendungsfälle zur Verfügung stehen.
  3. Die soziale Generalisierung ist zwar vermeidbar, wenn die transportierten Symbole vorgängig von denselben Partnern im kollokalen Interaktionsfeld definiert oder "ausgehandelt" wurden: z.B. wenn ein Liebespaar im Briefverkehr dieselben Koseworte verwendet, die vorher im zärtlichen Beisammensein ihre Bedeutung erlangten. Im allgemeinen aber müssen (vor allem wenn nicht genügend kollokale Interaktion vorangegangen ist) konventionalisierte Symbole verwendet werden, die auch von nicht gemeinten Adressaten auf dieselbe Weise verstanden werden. Entsprechend erhalten translokale Interaktionssysteme einen charakteristischen Aspekt sozialer Heteronomie: und ihre Integration in umfassendere Sozialsysteme wird (im Gegensatz zu den oft widerspenstig-autonomen Kollokalsystemen) insofern stark erleichtert, als die in ihnen ablaufenden Kommunikationsprozesse
von aussen gut einsehbar sind, weil sie sich objektiv wahrnehmbarer physischer Trägersubstrate (Briefpost, Telephon, Warenverkehr u.a.) bedienen, und insofern die Beteiligten konventionalisierte Symbole verwenden, um sich untereinander optimal verständlich zu machen.

Die vielfältigen Konsequenzen dieser dreifachen Bindung lassen sich am Vergleich zwischen mündlichem Gespräch und (fern)-schriftlicher Kommunikation besonders gut illustrieren.

Der mündliche Diskurs eröffnet die einzigartige Möglichkeit, auf kollektive Weise sprachlichen Sinn zu erzeugen: als emergentes Ergebnis intersubjektiven Zusammenwirkens, das nicht den subjektiven Intentionen der einzelnen Teilnehmer, sondern nur dem interaktiven Prozess als Ganzes zugerechnet werden kann. Deshalb ist es im kollokalen Gespräch tragbar, ja sogar erforderlich, dass die einzelnen Sprecher ihre Voten weder mit einem vorgängig fixierten, präzisen "subjektiv gemeinten Sinn" ausstatten noch als Formulierungen mit konventionalisiertem Bedeutungsinhalt verstanden wissen wollen, sondern als improvisierte Verständigungsangebote, die in einen vorgängig gewobenen, auch durch die nichtverbalen Ausdrucksebenen mitkonstituierten Situationszusammenhang einfliessen und den unvorhersehbaren Kontingenzen nachfolgender Repliken, Dupliken usw. ausgeliefert werden (vgl. Vygotsky 1962: 99).

Ohne grosse Rücksichten auf logische Konsistenz, situative Angemessenheit, optimale Verständlichkeit oder illokutionäre Mehrdeutigkeiten kann man risikolos eine breite Mannigfaltigkeit von Meinungen, Behauptungen, Interpretationen und Zumutungen zum Ausdruck bringen, solange man (und sei dies nur durch Kontinuierung der Anwesenheit) gleichzeitig mitsignalisiert, dass man für den Empfang von Rückmeldungen, das Nachliefern von Erläuterungen etc. verfügbar bleibt.

Freizügig und undiszipliniert kann man auch Begriffe mit äusserst diffusem Bedeutungsgehalt wie z.B. "Liebe", "Freiheit", "schön" oder "interessant" einfliessen lassen, weil aus den nachfolgenden Reaktionen klar wird, welche Konnotationen die Adressaten mit diesen Worten verbinden: und weil diese rückgemeldeten Spezifikationen genauso wie die ursprünglichen Konnotationen des Sprechers dazu beitragen, ihren intersubjektiven (im Gegensatz zum subjektiven und übersubjektiven) Sinngehalt mitzukonstituieren.

Sicher müssen auch die meisten verbalen Innovationen (Neologismen, Jargonausdrücke u.a.) ihre allererste Bewährungsprobe in kollokalen mündlichen Gesprächssituationen überstehen: zumindest wenn sie ihren Sinn nicht rein nominaldefinitorisch aus einer Kombination bereits etablierter konventioneller Ausdrücke beziehen.

Weitere Flexibilitäten entstehen dadurch, dass mündliche Voten trotz ihrer digitalen Basisnatur ("Gesagt ist gesagt", "Geschwiegen ist geschwiegen") durch nichtverbale Begleitkommunikationen mit kontinuierlich abgestuften illokutionären Eigenschaften angereichert werden können. Ein zögerlich-fragender Tonfall kann - ohne Innanspruchnahme expliziter Verbalisierung - signalisieren, dass man über die Wahrheit einer eigenen Behauptung noch Zweifel hegt, dass man bei der Avance Rückzugsmöglichkeiten offenhalten möchte, oder dass man bereit ist, eine Forderung in die unverbindlichere Form einer Bitte oder eines Wunsches zu transformieren.

So erweist sich das "Gespräch unter vier Augen" dem Briefverkehr wie auch dem Telefongespräch überall dort als haushoch überlegen, wo es darum geht,

  1. die Inhalte der Verständigung auf neue, noch unerprobte und vielleicht dissensträchtige Themenfelder auszuweiten;
  2. mit Partnern zurechtzukommen, von denen man nicht sicher weiss, wie sie bestimmte Begriffe oder Wendungen verstehen, bzw. welches Repertoire an gemeinsamen konventionellen Deutungsmustern sie mit dem Sprecher teilen;
  3. als Medium der Kommunikation auch noch wenig etablierte (z.B. bisher rein gruppenintern geltende) verbale Ausdrucksformen zu verwenden: bzw. zwar etablierte Ausdrücke, die aber wegen ihrer Mehrdeutigkeit immer nur im Rahmen eines spezifischen intersubjektiven Kontexts klare semantische Konturen gewinnen.
Sicher sind - was die Proliferation von "Geschäftsreisen" erklären mag - viele grössere Kaufs- und Verkaufsaktionen eng an die Ergebnisse eines vorangehenden mündlichen Gesprächs gebunden, in denen die Kontrahenten darum ringen, Interessenstandpunkte, Bedürfnisartikulationen und Kostenbewertungen im Hinblick auf das in Frage kommende Tauschgut neu zu definieren.

Ebenso ist leicht verständlich, warum in formalen Organisationen auf niedrigen Rängen oft der Schriftverkehr Vorrang hat, während sich auf höheren hierarchischen Niveaus das Schwergewicht auf mündliche Gespräche verschiebt (vgl. Brinkmann/Pippke/Pippke 1973: 158). Denn gegen die Leitungsspitze hin treten immer häufiger unvorhersehbare, unstandardisierte oder gar völlig einzigartige Problemkonstellationen auf, die eine Erweiterung der Verständigung auf neue Sachfragen oder eine Respezifikation bestehender Deutungsmuster (z.B. juristischer Begriffskategorien) in ganz neue Richtung notwendig machen.

Bei schriftlicher Kommunikation nun wird die zeitliche und räumliche Entkoppelung von Emission und Rezeption teuer damit bezahlt, dass praktisch jeglicher Sinngehalt aus den expliziten verbalen Formulierungen erschlossen werden muss:

  1. weil das physische Schriftstück als ein gegenüber seinem Entstehungskontext verselbständigtes physisches Objekt dasteht, das nur sehr wenig Verweisungen auf die partikulären subjektiven Intentionen und situativen Umstände, die bei seiner Abfassung bestanden haben, mit sich führen kann;
  2. weil die digital enkodierten verbalen Botschaften nicht wie bei mündlicher Rede durch einen Fluss analoger Komplementärkommunikationen auf nonverbaler Ebene begleitet werden: die über emotionale Erregungszustände, Motivationen oder illokutionäre Absichten des Sprechers Auskunft geben und dadurch die adäquate Deutung seiner Rede erleichtern könnten.
Auch wenn es angehen mag, vom verspäteten Weihnachtsgruss auf die Zerstreutheit des fernen Freundes oder von der zittrigen Handschrift auf die momentane zornige Erregung des Briefschreibers zu schliessen, so bleiben derartige Unterstellungen immer relativ spekulativ,
  • weil es im schriftlichen Ausdruck nur ein äusserst beschränktes Repertoire derartiger Begleitkundgaben gibt, so dass für jede von ihnen verschiedenste Ursachen in Frage kommen können: (mein Freund mag durch ein Reise oder Krankheit am rechtzeitigen Glückwunsch gehindert worden sein; oder eine spastische Nervenkrankheit mag seine unsicheren Schriftzüge erklären);
  • weil es nicht möglich ist, derartige Unterstellungen in der unmittelbaren wechselseitigen Wahrnehmung und Kommunikation zu verifizieren.
Während im mündlichen Gespräch der Empfänger dazu aufgefordert ist, durch möglichst aufmerksames und subtiles Hinhören und Hinsehen den Informationsgehalt der rezipierten Mitteilungen (zum Teil weit über das vom Sender vorgesehene oder erwünschte Mass hinaus) zu steigern, so sieht sich beim Schriftverkehr der Emittent mit der vollen Verantwortung dafür belastet, alles, was er ausdrücken will, auch explizit zu enkodieren. Dem Empfänger bleibt nur, den Schrifttext als eine vom Sender vollständig gestaltete Botschaft zu akzeptieren, deren Komplexität mit dem digital enkodierten verbalen Informationsgehalt koinzidiert und in keiner Weise dadurch steigerbar ist, dass er versucht, in die physischen Feinheiten des verwendeten Papiers oder Kugelschreibers einzudringen, oder den postalischen Ablauf der Briefzusendung exakt zu rekonstruieren.

Angesichts dieses Disziplinierungsdrucks sieht sich der Emittent schriftlicher Mitteilungen viel stärker als der mündliche Sprechpartner gezwungen, bei der Wahl einzelner Ausdrücke und Propositionen sorgfältig zu verfahren und der Komplexität des "gemeinten Sinns" durch eine entsprechende Differenziertheit und Elaborität des Gesamttextes Rechnung zu tragen: denn Geschriebenes wird in noch höherem Masse als Gesprochenes dem Individuum als zu verantwortendes intentionales Handeln zugerechnet, lässt sich aus rein technischen Gründen überhaupt nicht "ungeschehen" machen und ist als Ausdruckskundgabe von ungleich breiterer und langfristigerer Wahrnehmbarkeit in Rechnung zu stellen.

Auf der einen Seite ist bei Texten eine gewisse "horizontale Differenziertheit" (=Ausführlichkeit) geboten, um den Rezipienten die Möglichkeit zu geben, den präzisen Sinn einzelner Stellen hermeneutisch aus dem Gesamttext zu erschliessen. Der Bedarf dazu steigt in dem Masse, als Einzelausdrücke mit relativ diffusem, variablem Bedeutungsgehalt verwendet werden, oder wenn gar der Ehrgeiz besteht, relativ ungewohnte, wenig konventionelle Begriffsauffassungen erfolgreich zu transportieren.

Andererseits muss man bei schriftlichen Äusserungen viel häufiger als bei mündlichen Reden metasprachliche Kommunikationsebenen verwenden: um zu explizieren, dass, warum und in welcher Absicht man das Nachfolgende sagt. Denn während derartige illokutionäre Intentionen in der mündlichen Rede oft bereits aus den nichtverbalen Begleitkommunikationen (Art des Tonfalls, Blickens, Gestikulierens u.a.) hinreichend deutlich werden, müssen sie in Schrifttexten auf derselben, einzig verfügbaren Ebene expliziter Verbalisierung zum Ausdruck kommen.
 
 

Mit diesem Explikationszwang illokutionärer Akte sind zwei schwerwiegende Folgeprobleme verbunden:

  1. Sie werden genauso wie die Lokutionen dem Individuum als verantwortbare Handlungen verbindlich zugerechnet. Im Gegensatz zum mündlichen Gespräch kann man nicht mehr behaupten, es "nicht so gemeint zu haben": und entsprechend fehlt die Flexibilität, die illokutionären Intentionen momentan noch offen zu halten oder ihre Präzisierung intersubjektiven Verständigungsprozessen zu überlassen. Die besondere Härte eines schriftlichen Befehls besteht häufig darin, dass man sich dabei festlegt, ihn wirklich als Befehl (anstatt als Aufforderung, dringende Bitte oder gar nur als eine Wunschäusserung) verstanden wissen zu wollen. Wiederum zwingt die Digitalität der Sprache ganz drastisch dazu, unter wenigen, semantisch relativ weit auseinanderliegenden illokutionären Modi (Befehl, Bitte, Wunsch u.a.) einen bestimmten Modus verbindlich auszuwählen: während man beliebig abstufbare "Verbindlichkeitsgrade" zur Verfügung hat, wenn man sich z.B. der "Schärfe des Tonfalls" oder der "Strenge des Blicks" als Ausdrucksmedien bedient.
  2. In dem Masse, wie die Illokutionen explizite Intentionalhandlungen sind, können auch sie in den Verdacht geraten, unaufrichtig zu sein und von den Kommunikatoren bewusst zur Vorspiegelung falscher Absichten oder zur Inszenierung einer taktisch günstigen Selbstdarstellung verwendet zu werden.

  3. Schriftliche Kommunikation kann leicht völligen Schiffbruch erleiden, wenn auch die illokutionären Äusserungen dem wechselseitigen Misstrauen anheimfallen und in den haltlosen Strudel "doppelter Kontingenz" einbezogen werden: weil kein nicht-kontingenter "Haltepunkt" mehr existiert, von dem aus Wahrheitsgehalte und Absichten irgendwelcher Äusserungen beurteilt werden könnten. Im mündlichen Gespräch gibt es derartige Haltepunkte gerade in dem Masse, als die illokutionäre Ebene der willkürlichen Manipulierbarkeit der Sprecher nicht völlig zugänglich ist: ich sehe ihr an, dass sie es ehrlich meint, vor Wut kocht oder mich wirklich liebt....und im Licht dieser "authentischen" Ausdruckskundgaben erhalten ihre Worte "Sinn".
    Im Schriftverkehr wird dieses selbe Niveau an Vertrauen und Erwartungssicherheit nur erreicht, wenn durch eine willensmässige Setzung wettgemacht wird, was an evidenten Kundgaben fehlt: indem man sich zum Beispiel entschliesst, Aufrichtigkeit zu unterstellen, weil man in vergangenen kollokalen Interaktionen empirische Erfahrungen mit dem Briefeschreiber gemacht hat, die dieses Vertrauen (qua Induktionsschluss) zu rechtfertigen scheinen.
    Wiederum wird hier erkennbar, in welchem Ausmasse translokale Interaktionen parasitär von intersubjektiven Verständigungen zehren, die ursprünglich in der kollokalen Interaktion erarbeitet worden sind.

 
 

IV

Allein schon auf Grund ihrer physischen Gegenständlichkeit sind schriftliche Texte in einem sehr objektiven Sinne dazu disponiert, von einer sozial unkontrollierbaren Mannigfaltigkeit von Rezipienten dekodiert zu werden, über deren Zahl, Statusmerkmale, Qualifikationen, Situationsbedingungen und Sinnhorizonte zum Zeitpunkt der Enkodierung keine sicheren Antizipationen bestehen (vgl. Parsons 1975: 46f.).

Allerdings hat dieser "Öffentlichkeitscharakter" schriftlicher Dokumente so lange latent bleiben müssen, bis

  1. auf technischer Ebene Verfahren verfügbar wurden, um sie (z.B. durch Buchdruck) ohne grossen Arbeitsaufwand beliebig zu reproduzieren;
  2. auf sozialer Ebene institutionelle Kontrollstrukturen (Klöster, staatliche Zensurorgane etc.) weggefallen sind, die dazu dienten, das Schrifttum ähnlich wie mündliche Kommunikationen an gewisse Kontexte sozialer Interaktion zu binden;
  3. auf individueller Ebene der Alphabetismus so weit verbreitet war, um eine wirklich universelle, alle sozialen Gruppengrenzen transzendierende "literarische Öffentlichkeit" zu erzeugen.
Solange technische, soziale und individuelle Restriktionen die Emanzipation des Schrifttums aus partikulären sozialen Gruppenbindungen unmöglich machen, konnten Autoren davon ausgehen, dass ihre Rezipienten viele implizite Vorverständigungen mit ihnen teilten: so dass sie im schriftlichen Ausdruck einen ähnlich inexpliziten, "restringierten Code" wie in der mündlichen Konversation anwenden konnten.

Erst eine gegenüber partikulären Interaktionskontexten verselbständigte Schriftkultur muss sich deshalb als ein "geschlossenes semantisches Universum" konstituieren in dem sich der Sinn jeglicher Textstelle ausschliesslich aus seiner Selbstexplikation und seinen Beziehungen zu andern Stellen im selben Text (und/oder zu anderen verfügbaren Texten) ergibt.

Je weniger ein Rezipient in der Lage ist, den Sinn einer schriftlichen Äusserung dadurch zu präzisieren, dass er sich die intentionalen, sozialen und situativen Bedingungen ihrer Genese vergegenwärtigt, desto ausschliesslicher ist er darauf verwiesen, ihn durch "horizontale" Relationierung zu anderen schriftlichen Äusserungen bestimmen zu lassen. Und weil man dies voraussehen kann, bleibt dem Autor nur die Wahl, die Interpretationen seines Textes entweder den von ihm unbeeinflussbaren Konventionalismen der jeweils aktuellen Schriftkultur auszuliefern, oder ihn als ein sich selbst tragendes "semantisches Universum" zu konzipieren, indem er die Bedeutung der verwendeten Ausdrücke systematisch mitexpliziert.

Nur wenn sprachliche Begriffe und Propositionen im objektivierten Aggregatzustand der Schriftlichkeit vor Augen stehen, wird es einerseits überhaupt möglich, sie unter Anwendung logischer Schlussregeln oder anderer Relationierungsgesichtspunkte zu systematisieren und jene sich immanent elaborierenden und spezifizierenden "Diskursinseln" entstehen zu lassen, ohne die höhere Entwicklungsstufen der Philosophie, Wissenschaft, Mathematik oder Jurisprudenz undenkbar wären.

Andererseits macht dieselbe Autonomisierung gegenüber der mündlichen Rede derartige Systematisierungen auch notwendig: weil es ausser erschöpfender "immanenter Explikation" kein anderes Mittel gibt, um innerhalb der Universalsphäre der Schriftkultur wenigstens "semi-autarke" Subsysteme mit halbwegs autonomer Begrifflichkeit zu bilden.

Alle schriftliche Kommunikation leidet an dem Dilemma, dass es ihr nur unter grössten Anstrengungen systematischer Explikation gelingt, der heteronomen Subordination unter unbeeinflussbare Regeln konventioneller Sinndeutung zu entrinnen: also nur mittels Vorkehrungen, die es gerade unwahrscheinlicher machen, dass einer die Mühe aufbringt, solch anforderungsreiche Texte zu schreiben, und dass viele sich den Aufwand leisten, sie adäquat zu rezipieren.

Neben Schriftdokumenten sind noch viele andere Vehikel dazu geeignet, situationsfrei fixierten Sinn getreulich über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg zu transportieren, weil sich bei ihnen ebenfalls zwei gegenüber partikulären Subjekten und Interaktionszusammenhängen gleichermassen verselbständigte Konstitutionsbedingungen miteinander verbinden:

  1. Ein physisches Substrat, das in die kausal durchgängig geordnete Welt des Objekt-Faktischen hineinragt und deshalb von allen Subjekten, die über normale sensomotorische Fähigkeiten verfügen, in gleicher Weise wahrnehmbar und manipulierbar ist.
  2. Übersubjektiv verankerte Deutungsschemata, die dafür sorgen, dass alle Subjekte auf dasjenige, was sie auf dieselbe Weise wahrnehmen, auch in dieselben Verweisungszusammenhänge einbetten, so dass die Gemeinsamkeit des Sinnhorizonts nicht mehr interaktionell und kommunikativ erzeugt werden muss, weil er sich quasi "von selbst" aus konsensualen kulturellen Vorverständigungen ergibt.
Solche Medien unterscheiden sich aber danach, in welchem (einseitigen oder wechselseitigen) Bedingungsverhältnis sich diese beiden Komponenten (objektiver Faktizität und übersubjektiver Konventionalität) zueinander befinden.

Am "objektivistischen" Pol finden sich Gegenstände, deren Sinngehalt durch das physische Substrat eindeutig festgelegt ist und ohne physische Transformation nicht geändert werden kann: z.B. eine Goldmünze, deren Tauschwert sich völlig vom Edelmetallgewicht her bestimmt, oder ein Salatkopf, mit dessen fortschreitender Fäulnis sich gleichzeitig auch sein Gebrauchswert als Nahrungsmittel verliert.

Solche Objekte sind dadurch charakterisiert, dass sie die Stabilität ihres Sinngehalts in erster Linie auf die Dauerhaftigkeit ihres materiellen Substrats und nicht auf die Kontinuität institutionell gesicherter Sinn- und Wertzuschreibungen abstützen, weil er sich unauflöslich mit den intrinsischen Formeneigenheiten dieses Substrats verbindet. So haben beispielsweise Goldmünzen und technische Gerätschaften, Nutzpflanzen und massive Bauwerke besonders gute Chancen, über Zeiten gesellschaftlicher Desorganisation und institutionellen Zerfalls hinweg ihren Charakter als "Kulturobjekte" unbeschadet aufrechtzuerhalten.

Am entgegengesetzten, Pol befinden sich Artefakte, deren materielles Substrat keinerlei an intrinsischen Merkmalen festgemachte Sinngehalte suggeriert, sondern die ihre Bedeutung ausschliesslich dadurch erhalten, dass sie kraft sozialer Konventionen mit einem bestimmten Symbolgehalt ausgestattet werden: z.B. Banknoten, deren Tauschwert unabhängig von der Papierqualität gleichläufig mit dem volkswirtschaftlichen Preisniveau oder der Bonität der emittierenden Notenbank kovariiert; oder Computer, die ohne geeignete Software höchstens noch als Warmluftgebläse "brauchbar" sind.

Ungeachtet der Dauerhaftigkeit oder Verderblichkeit ihres materiellen Substrats haben derartige Symbolobjekte ihre Geltung an die Kontinuität konkreter Institutionen und Gesellschaftsordnungen gebunden, deren territoriale Reichweite bestimmt, in welchem Raume sie sich für erfolgreiche translokale Kommunikation verwenden lassen.

Einer breiten Intermediärzone zwischen diesen beiden Extrempunkten gehören all jene Artefakte an, für deren Sinngehalt es wesentlich (d.h. mitkonstituierend) ist, dass sie auf einem bestimmten, nicht auswechselbaren physischen Substrat beruhen, obwohl zwischen Substrat und Symbolgehalt keine intrinsischen, sondern nur rein konventionelle Zusammenhänge bestehen. Dazu gehören beispielsweise Embleme, Kultgegenstände, Gedenkstätten sowie traditionell überlieferte Unikatobjekte aller Art, die von gewissen Kollektiven als Ausdruck ihrer Identität und als Referenzobjekte für gemeinsames Erleben und Handeln in Anspruch genommen werden.

Und ebenso gehören zu diesem Mittelfeld jene hybriden Objekte, bei denen sich intrinsisch-materielle und extrinsisch-symbolische Sinnkonstituentien überlagern: z.B. minderwertigere Münzen, die ihren Wert teilweise aus ihrem Materialgehalt, teilweise aber auch aus der Vertrauenswürdigkeit der amtlichen Prägestätte beziehen; oder räumliche Abschrankungen (Zäune, Barrieren u.a.), die zum Teil als rein physische Hindernisse kausal wirksam sind, zum andern Teil jedoch als Symbole, die ein Übertretungsverbot (und daran geheftete institutionelle Sanktionen) zum Ausdruck bringen.

In welch komplizierter - teils substitutiver und teils komplementärer - Weise sich die beiden Verankerungsmodi auf der intrapersonalen Ebene des Faktisch-Objektiven einerseits und der suprapersonalen Ebene des Institutionell-Übersubjektiven andererseits miteinander verbinden, lässt sich gut am Beispiel sozialer Statusattributionen illustrieren, die sowohl für die Genese wie die Stabilisierung translokaler Interaktions- und alokaler Referenzbeziehungen eine unentbehrliche Funktion erfüllen.

Auf der einen Seite finden sich Statuszuschreibungen, die ausschliesslich biologisch fundierten Individualmerkmalen (Geschlecht, Alter, Körpergebrechen u.a.) beruhen und sowohl die Kontinuität wie die Extensität ihrer Geltung aus der andauernden und allgemein zugänglichen sinnlichen Wahrnehmbarkeit dieser Attribute beziehen.
 
 

Ihre weitgehende Unabhängigkeit von institutionellen Unterstützungsmechanismen bedeutet, dass sie

  1. weit über alle Grenzen verschiedener Gesellschaften, Ethnien und Kulturräume hinaus Anerkennung finden können,
  2. überall dort als Allokationskriterien für Handlungserwartungen, Privilegien, Besitztümer, Prestige oder Autorität in den Vordergrund treten, wo institutionelle Ordnungen wenig Gestaltungskraft besitzen: z.B. in archaischen Jäger- und Sammlergesellschaften, die ihre arbeitsteilige Binnendifferenzierung fast ausschliesslich am Geschlecht und Alter festzumachen pflegen, oder in informalen Alltags- und Freizeitkontexten der modernen Gesellschaft, wo sie bei der Konstituierung von Freundschafts- und Partnerschaftsbeziehungen, "peer groups" und subkulturellen Kollektivierungen aller Art als Rekrutierungskriterien wirksam werden.
Gerade diese Tatsache, dass man sich des Alters, Geschlechts oder anderer physischer Merkmale einer Person jederzeit objektiv vergewissern kann, hat nun aber zur Folge, dass sich die soziale Bedeutung derartiger Merkmale weit über alle kollokalen Interaktionsverhältnisse hinaus erstreckt.

So sind auch (ja gerade) Menschen moderner Gesellschaften überwiegend auf der Basis ihrer biologischen Charakteristika in überräumliche soziale Erwartungs- und Rollenstrukturen eingeordnet: ganz besonders durch ihr Lebensalter, an dem in steigendem Masse formale Rechtsfolgen (Schulpflicht, Militärpflicht, Heiratsfähigkeit, Rentenberechtigung, Einkommensdifferentiale nach Seniorität u.a.m.) festgemacht werden, sowie durch ihren Gesundheitszustand, der über ihre Integration in die Arbeitswelt und über Form und Umfang ihrer Einkommensverhältnisse entscheidet.

Vor allem wenn es darum geht, die Reichweite sozialer Integration auf eine maximale Vielfalt von Individuen mit verschiedenartigsten und unvorhersehbarsten sozio-kulturellen Merkmalen auszudehnen, wird es immer dringlicher, sowohl ihre wechselseitigen Beziehungen zueinander wie auch ihr Verhältnis zu Institutionen vorrangig an biologischen Eigenschaften festzumachen, weil Alter, Geschlecht, Invalidität u.a. dann leicht zu den einzigen Klassifikationsmerkmalen werden, die zweifelsfrei auf alle menschlichen Subjekte appliziert werden können und bei denen man davon ausgehen kann, dass sie (wegen ihrer unnegierbaren physischen Begleiterscheinungen) sowohl im Selbstverständnis jedes Einzelnen wie im Verhältnis zwischen verschiedenen Personen eine unbestrittene, invariante Relevanz besitzen.

Allerdings muss eine derartige Abstützung der sozialen Ordnung auf nichtsoziale Stabilitätsgrundlagen teuer damit bezahlt werden, dass sich die Statusverhältnisse sowohl hinsichtlich ihrer qualitativen Dimensionalität wie auch ihrer quantitativen Verteilung jeglicher sozialen Kontrolle und intentionalen Gestaltbarkeit entziehen. Denn genauso wie man bei einer Goldwährung nicht plötzlich ein anderes Metall zum Zahlungsstandard erheben kann, lassen sich Alter oder Geschlecht durch keine funktional äquivalenten Alternativkriterien ersetzen; und ähnlich wie die Bestände an Edelmetall unkontrollierbaren exogenen Einflüssen (bedingt durch zufällige Funde, Liquidierung bisher gehorteter Schätze u.a.) unterliegen, so muss man bei biologisch fundierten Statusattributionen hinnehmen, dass Kohorten irreversibel altern oder dass unterschiedliche Nationalitäts- und Mortalitätsziffern die Besetzung der Statusränge mitdeterminieren.

Genau entgegengesetzte Voraussetzungen und Folgeprobleme sind mit Statuskategorien verbunden, die - wie z.B. Ausbildungszeugnisse, Passpapiere, Führerscheine, Arbeitsbewilligungen u.a. - ausschliesslich von Institutionen erzeugt werden und in ihrer Geltung von deren dauerhaften inneren Funktionsfähigkeit und äusseren Legitimation abhängig bleiben. Ihre Verankerung in der Welt des "Objektiv-Faktischen" beschränkt sich meist auf physische Schriftdokumente, die im Unterschied zu biologischen Attributen artifiziell gestaltbar und reversibel umgestaltbar sind, dafür aber viel anspruchsvolleren - von der Reichweite staatlicher Autorität oder kultureller Konsensualität abhängigen - Geltungsbedingungen unterliegen.

Während über die objektiven biologischen Statuskriterien relativ fundamentale, mit vielfältigsten Korrelaten verbundene Sozialverhältnisse (z.B. Schulpflicht, Mutterschaftsurlaub, Rentenberechtigung u.a.m.) ihre raumabhängige Geltung und Stabilität empfangen, so dienen die übersubjektiven institutionellen Statusattributionen eher dazu, translokale oder alokale Beziehungen sehr spezifischer und transitorischer Art möglich zu machen.

So mag ich mit einem mir völlig unbekannten Spezialarzt allein deshalb einen Konsultationstermin vereinbaren, weil ich mich berechtigt fühle, aus dem im Telephonbuch angegebenen akademischen Titel auf seine zureichende Qualifikation für die Behandlung meines Leidens zu schliessen.

Diese einfache Alltagshandlung muss durch eine umfassende gesellschaftliche Gesamtverfassung ermöglicht werden, die es mir erlaubt, gleichzeitig zu sehr verschiedenartigen Institutionen volles Vertrauen zu hegen:

- zu den Verwaltungsbetrieben der PTT: dass sie keinen Titel zum Namen gesetzt hätten, wenn der Abonnent ihn nicht explizit mitgeteilt hätte;

- zu den Institutionen der Medizin: dass sie niemandem einen derartigen Titel verleihen, ohne seine Fähigkeiten und Kenntnisse mittels Prüfungen hinreichend zu verifizieren;

- zu den Institutionen der Polizei und der Gerichte: dass sie Personen entdecken und bestrafen, die ungerechtfertigt akademische Titel führen,

Fehlt dieses institutionelle Vertrauen, wird der Kreis meiner in Betracht gezogenen Interaktionspartner auf Personen eingegrenzt, über die ich mir in eigenen kollokalen Begegnungen ein positives Urteil bilden konnte, oder über die mir gute Bekannte eine vertrauenswürdige Bewertung zukommen lassen.

So hat das institutionelle Vertrauen die doppelte Funktion, einerseits Selbstvertrauen (in die eigene Urteilsfähigkeit)sowie interpersonelles Vertrauen (in die Urteilsfähigkeit partikulärer Anderer) zu substituieren, und andererseits den Kreis meiner potentiellen Interaktionspartner über meinen direkten wie auch meinen indirekten Bekanntenkreis hinaus zu expandieren.

Bei professionellen Beziehungen wie dem Arzt-Patient-Verhältnis kommt noch hinzu, dass das institutionell fundierte Vertrauen auch über alle kollokalen Interaktionen (z.B. im Sprechzimmer) hinweg seine ungebrochene Bedeutung beibehält: weil ich als "hilfloser Laie" nicht qualifiziert bin, mir aus Beobachtungen der professionellen Berufsperson und ihrer Verrichtungen ein Urteil über ihre Fähigkeiten zu bilden.

In der Evolution menschlicher Gesellschaften hat nun aber auch eine dritte Form der Statuszuweisung eine bedeutsame Rolle gespielt, bei der sich

  • fundierende Konstitutionsprinzipien auf der Basis faktischer, objektiv evidenter biologischer Merkmale,
  • spezifizierende Konstitutionselemente aus dem Raum übersubjektiv-institutioneller Fixierungen,
relativ gleichgewichtig miteinander verbinden.
 
 

Diese Statuszuweisung auf Grund von Verwandtschaft darf als das vielleicht ursprünglichste und universellste gesellschaftliche Ordnungsprinzip angesehen werden, das speziell darauf angelegt ist, völlig raumunabhängige soziale Beziehungen zu stiften und die zentripetalen Kräfte der Gruppenkollokalität durch Gegengewichte translokaler Solidarisierung, Austauschrelationen u.a. zu relativieren (vgl. Simmel 1908a).

So beruht die extensive Integrationskraft der Exogamie genau darauf, dass das in eine andere Kollokalgruppe eingeheiratete Mädchen nicht aufhört, Tochter, Schwester, Nichte ihrer jetzt weit entfernten Angehörigen zu sein, sondern alle diese Statusrelationen benutzen kann, um in der neuen Gruppe eine besondere Identität zu verteidigen, bei Bedarf Hilfeleistungen zu aktivieren oder gelegentliche Zusammenkünfte beider Gruppen zu legitimieren.

Ungeachtet ihrer unendlich variablen spezifischen Ausgestaltung haben alle Verwandtschaftsordnungen die Gemeinsamkeit, dass die objektive, nicht kontingente Faktivität der gemeinsamen biologischen Deszendenz zur Grundlage gewählt wird, um im horizontalen Verhältnis gegenwärtig lebender Personen Erwartungs-, Normen- und Rollenstrukturen zu definieren.

Im Unterschied zu rein biologisch fundierten Attributionen (Alter, Geschlecht u.a.) sind aber die beiden Ebenen des Faktisch-Gegebenen und des Institutionell-Erzeugten wechselseitig stärker voneinander differenziert, indem

  • der Verwandtschaftsstatus nicht durch sinnliche Wahrnehmung aus der Körperlichkeit der Person ersichtlich ist: und deshalb besonderer sozialer und kultureller Vermittlungen bedarf, um bekannt und anerkannt zu werden;
  • die an einen Verwandtschaftsstatus gehefteten Erwartungen und Pflichten mit dem objektiven Faktum der Blutsverwandtschaft normalerweise nicht in einem objektiv-kausalen, sondern nur einem konventionellen Verhältnis stehen: und deshalb relativ beliebig variiert werden können;
  • neben der vorgegebenen Blutsverwandtschaft immer auch intentionale institutionelle Handlungsvollzüge (Heirat, Adoption) hinreichend sind, um neue Verwandtschaftsverhältnisse (die allerdings immer relativ irreversibel sind) zu begründen.
Die fast grenzenlose Elastizität des Verwandtschaftsprinzips wird dort sichtbar, wo sich kollokale Familiengruppen unter Bezugnahme auf rein fiktive "gemeinsame Ahnen" zu segmentär gegliederten Clans, Lineages oder Stämmen zusammenschliessen, um beispielsweise für Situationen gemeinsamer äusserer Bedrohung translokale Solidaritätsbindungen abrufbereit zu halten, oder wo speziellere Gruppierungen (meistens erwachsene Männer) sich durch bewusst metaphorische Verwendung geläufiger Verwandtschaftsrelationen zu "Blutsbruderschaften", Sodalitäten" u.a. verbünden (vgl. z.B. Service 1971: 64ff.).

Vergleichende kulturanthropologische Studien zeigen deutlich, dass derartige formalisierte Statusordnungen die Funktion haben mangelnde kollokale Bindekräfte zu substituieren, und dass sie deshalb vor allem in Jäger- und Sammlergesellschaften, deren Mitglieder zu hoher geographischer Dispersion und dauernder unvorhersehbarer Migration gezwungen sind, eine überragende integrative Bedeutung zu gewinnen. So weisen die in Wüstengegenden angesiedelten australischen Völker, deren Mitglieder wegen der knappen und weit verstreuten Wasserquellen keine dauerhaften Kollokalbeziehungen aufrechterhalten können, besonders zahlreiche und bedeutsame Sodalitätsgruppen auf: weil sie ohne solch formalisierte, über kulturelle Mechanismen vermittelte Bindungen wohl überhaupt nicht in der Lage wären, irgendeine Gruppeneinheit zu bewahren. Umgekehrt mag das weitgehende Fehlen derartiger Organisationen bei den relativ sedentären, im vegetationsreichen feuchten Küstenraum lebenden Gruppen damit erklärt werden, dass dort die aus der Kollokalität entstehenden Sozialbindungen genügend intensive und umfassende Integrationskräfte entfalten (vgl. Yengoyan 1968: 185ff.).
 
 

"Wenn die Mitglieder einer Gruppe aus Subsistenzgründen sehr verstreut leben müssen und der "residentielle Faktor" deshalb schwach ausgeprägt ist, organisiert sich die Gruppe eher als Sodalität: mit Insignien, Mythologien, Zeremonien, Betonung von Verwandtschaftsrelationen usw., die das Kollektiv zu einer kohärenten und kohäsiven Einheit zusammenschweissen.

Die "Sodalität" bildet also einen kulturell erzeugten Faktor, der zwischen den geographisch-demographischen Gruppenverhältnissen einerseits und der übrigen sozialen Organisation andererseits interveniert. Keine Jäger- und Sammlergruppe existiert ausschliesslich als residentielles Agglomerat, jede verfügt in ihrer sozialen Struktur auch über Elemente der Sodalität. Aber Zahl und Bedeutung derartiger Merkmale verhalten sich umgekehrt proportional zur Stärke des residentiellen Faktors. Sind sowohl die Residenzfaktoren wie die Sodalitätsfaktoren schwach, regrediert die Gesellschaft eher auf das Niveau von Kleinfamilien, wie man dies von den Eskimos oder dem Volk der Shoshore an der Westküste kennt." (Service 1971: 64/65).

Dieser unterschiedliche Bedarf nach Formalisierung und Depersonalisierung von Statusordnungen wird auch in der Art der verwendeten Verwandtschaftsklassifikationen deutlich:

Während die kollokal gut integrierten Küstengruppen ein "egozentrisches" Klassifikationssystem benutzen, bei dem sich jedes Individuum als Mittelpunkt eines eigenen partikulären Beziehungsnetzes lokalisiert, so herrschen bei verstreuteren Gruppen in ariden Gegenden soziozentrische Klassifikationen vor, die Individuen derselben Generation und Heiratsgruppe dazu nötigen, sich in dieselben, überpersonell fixierten Verwandtschaftskategorien einzuordnen (vgl. Service 1971: 71).

In analoger Weise hat sich die geographisch weit verstreut lebende Adelselite Deutschlands gezwungen gesehen, ihre Statusordnung auf die objektive Grundlage genealogischer Handbücher abzustützen und ihr damit einen Grad an Explizität, Stabilität und historischer Fundierung zu verleihen, der mit den fluiden Verhältnissen bei der höfischen Elite Frankreichs stark kontrastiert:

"Das Fehlen einer zentralen gesellschaftlichen Eliteformation, von der Art der höfischen Gesellschaft Frankreichs oder der Society Englands, die als einheitliche Prägstätte des Verhaltens, als Austauschstätte der öffentlichen Meinung über den Marktwert der einzelnen Zugehörigen durch personelles Erproben von Angesicht zu Angesicht hätte dienen können, wurde - ausserhalb des Hochadels, der an Umfang klein genug für persönliche Kontakte auch jenseits der regionalen und territorialen Grenzen blieb und dessen Mitgliedern sich ziemlich regelmässig Gelegenheit für persönliche Kontakte bot - vor allem ersetzt durch relativ streng kontrollierte Abstammungs- und Zugehörigkeitsverzeichnisse in Buchform......."(Elias 1983: 148f.).

Am französischen Hofe wurden solch askriptive, von der Deszendenz hergeleitete Kriterien der Statuszuweisung zwar ebenfalls respektiert, aber immer auch durch aktuelle erworbene Rangdifferenzierungen überlagert, die sich aus der Gunstbeziehung zum Monarchen oder den Einflusschancen auf seine Minister oder Maitressen ergaben und den Turbulenzen täglicher kollokaler Interaktionsprozesse ausgeliefert blieben:

"Die aktuelle Rangordnung innerhalb der höfischen Gesellschaft schwankte fortwährend hin und her. Die Balance innerhalb dieser Gesellschaft war, wie gesagt, sehr labil. Bald kleine und unmerkliche Erschütterungen, bald grosse und sehr merkliche Erschütterungen veränderten ununterbrochen die Stellung und die Distanz der Menschen innerhalb ihrer. Diese Erschütterungen zu verfolgen, dauernd auf dem Laufenden über sie zu sein, war für den höfischen Menschen lebenswichtig...."(Elias 1983: 139).

Je geringer die Reichweite und Intensität kollokaler Faktoren, desto eher scheint ein soziales Kollektiv genötigt, all seine übersubjektiven, institutionellen und kulturellen Festlegungen vorrangig für Zwecke und der Stabilisierung und Integration in Anspruch zu nehmen und sie dementsprechend rigide zu traditionalisieren: ähnlich wie das Judentum in der Diaspora in den starren Regeln des Talmuds eine Stütze fand, um 2000 Jahre der Staatenlosigkeit ohne Verlust seiner ethnischen Einheit zu überdauern.

Und umgekehrt: in dem Masse, wie Sesshaftigkeit, territoriale Kontiguität und verdichtete urbane Lebensweise für eine Stärkung kollokaler Integrationskräfte sorgen, wird es risikoloser möglich, institutionelle Prozesse und kulturelle Produktion aus starren Konservierungszwängen in die Sphäre freier Kreativität und Innovativität zu entlassen, was sicherlich die in allen historischen Epochen feststellbare produktive Fermentwirkung der Städte (wie auch der herrschaftlichen Hofhaltungen) erklärt.

Dank ihrer immensen Fähigkeiten zur Produktion standardisierter Artefakte einerseits und zur Implementation institutioneller Steuerungen andererseits verfügen moderne Gesellschaften über ein schier unerschöpfliches Arsenal von Vehikeln, die für die subjekt-, interaktions- und situationsunabhängige Übertragung von Sinn in Frage kommen und für die Erleichterung translokaler Kommunikation Verwendung finden können. So kann es sich der heutige Kaufmann (im Gegensatz zu seinem mittelalterlichen Kollegen) aus zwei Gründen ersparen, zusammen mit seiner Handelsware in ferne Länder zu reisen und jeder Transaktion persönlich beizuwohnen:

  1. Weil die versandten Güter dank ihrer standardisierten industriellen Herstellung mit derart homogenen Merkmalen ausgestattet sind, dass jedes einzelne Stück das Interpretationsschema, ein "Zahnrad", ein "Fernsehapparat" oder ein "Nylongewebe" zu sein, auf die vollkommenste Weise erfüllt. Dadurch wird es überflüssig, ähnlich wie z.B. im Vieh- oder Kunsthandel bei jedem einzelnen Kaufakt separate Überzeugungsarbeit zu leisten.
  2. Weil das Vertrauen in Bankinstitutionen, staatliche Bürgschaftsgarantien sowie in die allfällige gerichtliche Erzwingbarkeit von Ansprüchen dafür sorgen, dass fernschriftlich fixierte Kontrakte, Kreditanweisungen, Kontenübertragungen usw. uneingeschränkte Geltung haben. Dadurch wird ein Käufer beispielsweise davon entlastet, an Ort und Stelle abzählbare Goldstücke in Empfang zu nehmen und noch während der Anwesenheit des Zahlers auf Echtheit zu überprüfen.
Erst seit der Einführung standardisierter maschineller Herstellungsverfahren kann man von verschiedenen materiellen Objekten behaupten, dass sie in jeder (individuell und sozial) relevanten Hinsicht einander de facto ebenso gleich seien, wie dies de jure z.B. für verschiedene Banknoten oder Briefmarken desselben Nominalwertes gilt. Und erst diese quasi-ideale Identität und Substituierbarkeit macht es mir möglich, die meisten Gebrauchsartikel von Versandhaus herschicken zu lassen und nur noch zum Erwerb handgeknüpfter Orientteppiche, handwerklicher Antikmöbel oder bibliographische Kostbarkeiten in die Stadt zu gehen: weil der Unikatcharakter solcher Objekte es nach wie vor unerlässlich macht, jedes Stück persönlich zu besichtigen und im kollokalen Gespräch den vertrauensvollen Rat des Fachverkäufers einzuholen.

Überall sind es die am meisten standardisierten, konventionalisierten und externalisierten Manifestationen der Kultur, die sich als Medien translokaler sozialer Integration am besten eignen: so dass in extensiven Räumen (z.B. im nationalen Territorialstaat oder auf internationaler Ebene) häufig ritualistisch erstarrte Traditionen vorherrschend bleiben, während in kollokalen Interaktionszentren (z.B. Städten, Universitäten) aktuellere und fluidere kulturelle Muster vorherrschend sind. Typischerweise findet man in der Kulturgeschichte immer wieder die Sequenz, dass sich zuerst in geographisch sehr engen und durch hohe kollokale Verdichtung gekennzeichneten Räumen (z.B. in Städten, Klöstern, an Fürstenhöfen oder Campusuniversitäten) bedeutsame kulturelle Innovationen entstehen und ihre erste "Testphase" durchlaufen, bevor sie dann eine weiträumige, teilweise gar weltumspannende Propagation erfahren.

Die Ausbreitung der sumerischen Kultur in den akkadischen Reichen, der Kultur des antiken Griechenlands zur Zeit des Hellenismus und des IMPERIUM ROMANUM sowie der westeuropäischen Kultur unter dem Einfluss der Kolonialmächte und der USA - dies sind nur drei Beispiele für dieses symbiotische Zusammenwirken kleinstaatlicher Kulturproduktion und grossstaatlicher Kulturdiffusion. Charakteristisch für die letztere ist jeweils, dass sich dezentrale Prozesse spontaner Assimilation (z.B. im Rahmen von Modeströmungen und sozialen Bewegungen) und zentralistische Vorgänge politischer Oktroyation (z.B. im Gefolge militärischer Eroberungen) komplementär miteinander verbinden.

Nicht zufällig werden die weltumspannendsten Formen regelmässiger sozialer Interaktion auch in der Gegenwart durch Institutionen oder Vereinigungen garantiert, die besonders routinisierte und traditionalistisch-verfestigte Ziele, Verfahrensweisen und Normstrukturen verwalten. Von der katholischen Kirche über den Weltpostverein und den internationalen Fussballverband bis zum Nestlé-Konzern und der Coca Cola Corporation spannt sich der Bogen solcher nichtstaatlicher transnationaler Organisationen, deren kontinuierliche globale Aktivität dadurch gesichert wird, dass überall genau dieselben, im Medium schriftlicher Regeln oder materialisierter Techniken erschöpfend explizierbaren, Verhaltensorientierungen gelten und unabhängig von der immensen Variabilität der Situationsbedingungen oder Mitgliedermerkmale völlig identische Verfahrensabläufe oder Produktionsprozesse aufrechterhalten werden.

Die auffällige Regularität, dass die vor Jahrzehnten gegründeten transnationalen Assoziationen häufig weltumspannend sind, während Vereinigungen jüngeren Gründungsdatums sich überwiegend auf ein regionales Einzugsgebiet beschränken (vgl. Geser 1983) mag damit zusammenhängen, dass immer mehr auch weniger formalisierte Sphären der Kultur (z.B. im wissenschaftlich-technischen Bereich) in die internationale Interaktion einbezogen werden, zu deren Pflege häufige kollokale Zusammenkünfte (Versammlungen, Workshops, Symposien u.a.) unerlässlich sind.

Innerhalb der weltweiten Organisationen selbst kann man eine Funktionsverteilung sehen, in der sich der unterschiedliche Bedarf nach kollokaler Interaktion widerspiegelt. Zum Beispiel tendieren multinationale Konzerne dazu, ihren Dritt-Welt-Filialen ausschliesslich hoch routinisierbare Fertigungsprozesse zuzuweisen, die relativ wenig radiale Kommunikation mit der Zentrale erforderlich machen: während die problematisch-labilen, subtile Verständigung und intensiven Informationsaustausch erfordernden Funktionen (der Forschung und Entwicklung, des Finanzmanagements u.a.) in den zentralen "Headquarters" belassen werden. Diese sind überdies häufig in das Kollokalfeld einer weltstädtischen City eingebettet, innerhalb dem rasch und ohne grosse Anstrengungen Zusammenkünfte mit verschiedenen Komplementärinstanzen (Rechtsberatern, Werbeagenturen, Finanz- und Börsenfachleuten, hohen Regierungsbeamten u.a.) stattfinden können (vgl. König 1974: 88/89; Palen 1975: 99).

Hat sich die Industrie dank ihrer standardisierten maschinellen Massenproduktion bereits seit Anbeginn von den städtischen Zentren (an die das qualifiziertere Handwerk immer gebunden blieb) emanzipieren können, um irgendwo im ländlichen Raum aus billigen Arbeitskräften oder energiespendenden Wasserläufen Nutzen zu ziehen, so erhalten dank fortschreitender technisch-organisatorischer Routinisierung immer mehr Fertigungsprozesse eine Form, in der sie vom Entstehungskontext abgelöst und - aus durchaus gleichgebliebenen Motiven der Kostenersparnis - in ferne Billiglohnländer verlagert werden können (vgl. Fröbel/Heinrichs/Kreye 1972).

In dem Masse, wie die translokal integrierten "Peripherien" derartige Funktionen absorbieren, entstehen im "Zentrum" Unterbeschäftigungen, die nur durch eine umso stärkere Expansion nicht routinisierter (und deshalb stärker auf kollokale Interaktion verwiesener) Funktionen vermindert werden können (vgl. z.B. Piore/Sabel 1984: passim).

Generell muss das klassische Verhältnis zwischen Stadt und Land vor allem unter dem Gesichtspunkt begriffen werden, dass im urbanen Raum eher unstandardisierte, innovative, informell-diffuse und deshalb auf subtile Interaktion angewiesene Tätigkeiten, Interaktionsformen und Produktionsprozesse vorherrschend sind, währen rurale Gebiete nur über relativ stark formalisierte und konventionalisierte Symbolstrukturen mit den städtischen Zentren in Verbindung stehen und häufig sogar die Funktion haben, als "Endablagerungsstätten" für fossilierte, in den Städten vielleicht bereits lange als "altmodisch" oder obsoleszent angesehene Formen der Kultur, Technik, Organisation u.a. zu dienen.

So muss man als Landbewohner hinnehmen, dass via Fernsehen überwiegend "bewährte", wenn nicht gar völlig antiquierte Serienfilme und Theateraufzeichnungen gesendet werden, der Versandhauskatalog nur gängige Standardartikel anzubieten hat, der überforderte Dorfarzt seine therapeutischen Massnahmen allzu oft auf die Applikation handelsüblicher Pharmazeutika beschränkt und die kommunale Verwaltung wegen ihrer stark routinisierten Vollzugsaufgaben (Einwohnerkontrolle, Grundbuchregistratur u.a.) wenig Anlass zu politischem Interesse bietet.

Der Reiz des Stadtlebens besteht demgegenüber - auch und gerade in der modernen Gesellschaft - genau umgekehrt in der Möglichkeit, an innovativ-experimentellen Aufführungen oder Kunstvernissagen beizuwohnen, Spezialgeschäfte mit seltenen, teilweise gar einzigartigen Verkaufsgegenständen aufsuchen zu können, sich bei der Wahl von Sexualpartnern äusserst selektiv zu verhalten, beim Spezialarzt oder in der universitären Poliklinik hochkomplexe medizinische Fachberatung zu bekommen oder sich an einer lebendigeren innovativeren politischen Szene zu beteiligen.

Aus der Perspektive etablierter sozialer Ordnungen sind kollokale Interaktionssysteme - ganz unabhängig von den Inhalten ihrer Prozesse und Zielsetzungen - in einem sehr grundsätzlichen Sinne "subversiv": weil sie dank ihres geringeren Bedarfs an übersubjektiven Fixierungen in der Lage sind, sich von institutionellen Regeln und kulturellen Traditionen jeglicher Art zu emanzipieren, ihnen eine selbsterzeugte Mikroordnung fluiderer, reversiblerer Art entgegenzusetzen, und vielleicht gar als Brutstätten sozialer und kultureller Innovationen auf die umfassenderen (oft zu keiner selbständigen Wandlung befähigten) Systemebenen einzuwirken.

Die raumübergreifenden Institutionen und Organisationen pflegen diesem gleichzeitig unentbehrlichen und bedrohlichen funktionalen Potential kollokaler Systeme mit entsprechender Ambivalenz gegenüberzustehen.

Auf der einen Seite sind sie zwecks Erhaltung ihrer inneren Flexibilität und äusseren Adaptionsfähigkeit darauf angewiesen, kollokale Subsysteme gelten zu lassen oder gar absichtlich zu erzeugen. Vorstandssitzungen, Generalversammlungen, Konzilien, Workshops, Kongresstagungen oder Festivals sind gängige Arrangements, um kollokale Interaktionssysteme in institutionell kontrollierbare und domestizierbare Formen zu zwingen und deren "Sprengkräfte" auf ein mit der Aufrechterhaltung des überlokalen Strukturrahmens kompatibles Mass zurückzubinden.

Auch Grossversammlungen pflegen unter diesem moderierenden Einfluss den Charakter "stockender" bzw. "verlangsamter" Massen (Kundgebungen, Prozessionen, Kirchengottesdienste, Zuschauermengen usw.) anzunehmen: einen Aggregatzustand, bei dem die immanenten Energien unkontrollierbaren Kollektivhandelns latent gesetzt sind, ohne dass allerdings die Angst vor ihrer potentiellen Entfesselung völlig aus dem Erwartungshorizont verschwindet (vgl. Canetti 1980: 32ff.).

Auf der andern Seite werden Kollokalsysteme als Quellen unvorhersehbarer Ereignisse gefürchtet, die den institutionellen Apparat mit vielfältigen neuen Forderungen und Problemen belasten und als Ausgangspunkte für unwillkommene Neuerungen oder bedrohliche Häresien in Betracht gezogen werden müssen.

Selbst von den formellen Autoritäten offiziell veranstaltete (und maximaler Überwachung und Kontrolle zugängliche) Kollokalsysteme können sich als wahre "Pandorabüchsen" erweisen, die man besser gar nicht (er-)öffnet, wenn man Wert darauf legt, den institutionellen Status quo unbeschädigt zu erhalten.

Daraus erklärt sich zum Beispiel, warum konservative autokratische Herrscher selbst Parlamente, in denen ihre Sympathisanten die Mehrheit haben, meist nicht mehr einzuberufen pflegen, warum die Kurie im Vatikan der Einberufung von Kirchenkonzilien eher abweisend gegenübersteht, und warum ein blosses Zusammentreffen von Führern verfeindeter Staaten, Parteien oder Verbände als Ereignis gewertet wird, das kommende Wandlungen in ihrem wechselseitigen Verhältnis signalisiert.

Eine experimentelle Untersuchung von Morley et al. (1969) hat gezeigt, dass Verhandlungsprozesse auf eine charakteristische Weise anders verlaufen, wenn unter Anwesenden die Partner nur übers Telephon anstatt "am grünen Tisch" miteinander kommunizieren. Beim translokalen fernmündlichen Kontakt scheint es nämlich viel besser möglich, ein mit den universalistischen Wertkriterien der Beteiligten kompatibles Ergebnis zu erzielen und der Partei mit dem besser legitimierbaren Anliegen (dem "stronger case") zum Durchbruch zu verhelfen. In der kollokalen Situation hingegen scheinen vor allem auf Grund nonverbaler Wechselwirkungen (z.B. Augenkontakte) der Beteiligten Wirkungen auszugehen, die mit Rechtfertigungsansprüchen nichts zu tun haben und auf unkontrollierbare Weise irgendein anderes, davon abweichendes Verhandlungsresultat induzieren (vgl. Morley/Stephenson/Kniveton 1978).

Daraus wäre beispielsweise zu folgern, dass kollokale Verhandlungssysteme vor allem bei jenen Konflikten unentbehrlich sind, wo es wegen der Inkommensurabilität oder der Gleichrangigkeit der gegenüberstehenden Interessen und Wertprioritäten gar nicht möglich wäre, ein nach übergeordneten Grundsätzen "objektiv richtiges und gerechtes" Ergebnis zu erzielen, und dass sie andererseits überall dort (z.B. innerhalb von Bürokratien oder im Verhältnis bürokratischer Stellen zu betroffenen Bürgern) korrumpierend wirken, wo man auf der strikten Implementierung einmal festgelegter Bewertungskriterien insistiert.

Noch ungleich schwieriger sind die von all den periphereren Kollokalsystemen (z.B. Gemeinden, Pfarreien, Filialbetrieben, "profit centers", Schulklassen, Aussendienststellen usw.) ausgehenden "Subversionswirkungen" vorauszusehen und unter Kontrolle zu bringen: weil in den Herrschaftszentren meist nicht einmal erfahrbar ist, was sich dort alles vollzieht, und auch vollständige Kenntnisse darüber oft nicht helfen könnten, weil keine präzisen Steuerungs- und Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Andererseits sorgt dieser selbe Mangel an umfassenden Kommunikations- und Kontrollmöglichkeiten dafür, dass solche Devianzen bei den Einheiten, in denen sie entstehen, insuliert bleiben und weder auf andere Subeinheiten noch auf die Gesamtinstitution übergreifen.

So ist das in Myradien unbezüglich nebeneinander koexistierender Schulen und Schulklassen segmentierte Bildungssystem dadurch charakterisiert, dass es

  • einerseits keine Kapazitäten hat, um über all diese Subeinheiten hinweg einheitliche Wert-, Ziel- und Verhaltensstandards zu implementieren;
  • andererseits aber gegenüber den vielfältig abweichenden Praktiken in diesen kollokalen Subsystemen auch fast völlig unempfindlich ist: weil keines von ihnen die Fähigkeit hat, auf andere gleichrangige Segmente Einfluss zu nehmen (und weil Beeinflussungsversuche institutioneller Zentren folgenlos bleiben, da diese ihrerseits nicht in der Lage wären, Neuerungen extensiv durchzusetzen) (vgl. Meyer/Rowan 1978).
An der Beziehung zwischen dem Territorialstaat und der Gemeindeebene lassen sich die ambivalent- widersprüchlichen Beziehungen einer alokalen Institution zu ihren kollokalen Subeinheiten besonders gut illustrieren.

Vom Standpunkt des politisch-administrativen Staatsapparates aus gesehen sind die Gemeinden "periphere Grenzstationen", denen die Funktion zukommt,

  1. in überschaubaren verdichteten Siedlungszonen für die Implementation staatlicher Regeln und Massnahmen zu sorgen und dabei die von den überlokalen Instanzen fixierten Erwartungen mit den Besonderheiten des lokalen Kontextes zu vermitteln, sowie
  2. "in vorderster Front" mit den Vollzugsschwierigkeiten zurechtzukommen, wie sie beispielsweise aus realitätsfernen Gesetzesnormen, aus unzureichend präzisierten Verwaltungsanweisungen oder unsensibel vereinheitlichten Leistungserwartungen entstehen (vgl. Geser 1986a: 182; Lipsky 1976).
Unabhängig vom Föderalismus oder Unitarismus seiner formalen Verfassung scheint kein Staat willens oder in der Lage, auf die intermediäre Mitwirkung dieser historisch gewachsenen kommunalen Kollokalsysteme zu verzichten und sie völlig durch ein von ihm selbst artifiziell erzeugtes System administrativer Subeinheiten zu ersetzen.

Denn überall bewähren sich Gemeinden mit ihrer Fähigkeit,

  1. eine auf die lokalen Gegebenheiten Rücksicht nehmende ergänzende politisch-administrative Mikroordnung zu konstitutieren, die für den Vollzug staatlicher Massnahmen unentbehrlich ist, obwohl sie von den politischen Herrschaftszentren aus nicht explizit konzipiert wird, ja den Vorstellungen und Intentionen der überlokalen Behörden oft sogar widerspricht;
  2. ad hoc auf eine Unzahl unerwarteter und neuartiger Problemfälle reagieren zu können, die den überlokalen Instanzen (noch) nicht bekannt sind und (noch) nicht Gegenstand umfassender politischer Entscheidungen geworden sind.
"Die soziale Organisation der Gemeinde muss als ein äusserst flexibles System menschlicher Adaptation betrachtet werden. Ihre flexible und lockere Organisation, ihre informelle und unspezifizierte Komplexität erlaubt es, dass sie auf eine praktisch unbegrenzte Vielfalt von Ereignissen, Kontextbedingungen und Umweltanforderungen reagiert. Mit ihrer Fähigkeit, ihre sozialen und ökonomischen Ressourcen kurzfristig - und oft unter erheblichem Druck - in immer wieder neuer Form und für immer wieder andere Zwecke zu mobilisieren, übertrifft sie alle andern sozialen Systeme." (Leeds 1973: 22/23).

Entsprechend gibt es fast überall zumindest de facto einen Zustand, den man in föderalistischen Ordnungen als "Subsidiaritätsprinzip der Gemeindeautonomie" bezeichnet: weil es aus rein organisatorischen Zwängen immer die Gemeinden sind, die den residualen Bestand der vom Staat ignorierten oder noch nicht bewältigten Problemen zu bearbeiten haben und dank dieser Filtertätigkeit den überlokalen Instanzen eine entsprechende "windstillere" Umwelt verschaffen, in der diese unbelastet von dringlichen Handlungszwängen längerfristige Planungsperspektiven und relativ rigide Normstrukturen aufrechterhalten können (Geser 1986a: 182).

Dieselben Merkmale der Informalität und Flexibilität, die der Gemeinde ihre unentbehrliche komplementäre Funktionsstellung innerhalb des Territorialstaats verschaffen, erlauben es aber auch, dass sie substitutiv zur staatlich oktroyierten Ordnung eine davon abweichende lokale Ordnung erzeugt. Die Überlebensfähigkeit derartiger örtlicher Subkulturen wird dadurch erhöht, dass sie

  • wegen ihrer Informalität relativ unsichtbar und für die Oberbehörden schwer objektivierbar bleiben,
  • vom Staat nicht zerstört werden können, ohne dass gleichzeitig auch die positiven Funktionsleistungen der Gemeinde mitbeschädigt werden.
Nur in Grenzfällen äusserst geringer staatlicher Legitimität pflegen kommunale Gemeinwesen der umfassenden politischen Ordnung als kohäsive, von aussen unpenetrierbare Solidaritätsgemeinschaften gegenüberzutreten: wie z.B. die "Favelas" brasilianischer Grossstädte, wo äusserst dichte informelle Beziehungsnetze dafür sorgen, delinquente Angehörige vom Zugriff der Polizei zu schützen oder kollektive Formen der Steuerverweigerung zu organisieren (vgl. Leeds 1973).

Viel universeller ist die Erscheinung, dass örtliche Verwaltungs-, Polizei- oder Sozialhilfestellen unter dem unbezwinglichen Einfluss kollokaler Interaktionsbeziehungen dazu neigen, ihre Amtspflichten nicht mehr mit dem erforderlichen Mass an Regeltreue, affektiver Neutralität und Universalismus wahrzunehmen, oder aus Angst vor Pressionen, vor denen sie keine höhere Amtsstelle schützen kann, gar völlig illegitime Praktiken zu applizieren (vgl. z.B. Lipsky 1976).

Aus der begrenzten methodologischen Relevanz des "positonalen Ansatzes" in der Kommunalsoziologie (vgl. z.B. Drewe 1974) wird auch deutlich, in welch geringem Masse die faktische Verteilung von Macht und Einfluss den formell zugeschriebenen Amtskompetenzen folgt, sondern sich aus intrakommunalen Strukturbildungsprozessen ergibt. Ebenso sind kommunale Bevölkerungen bei der Einschätzung ihrer Führer relativ wenig auf gesamtgesellschaftlich standardisierte, mit dem Berufs- oder Bildungsstatus verknüpfte Prestigeindikatoren angewiesen, sondern können an deren Stelle autonom erzeugte Kriterien "informeller persönlicher Wertschätzung" setzen (vgl. Wurzbacher/Pflaum 1954).

Aus analogen Gründen ist es auch schwierig, kommunale Wahlergebnisse aus den ideologischen Standpunkten und Parteiloyalitäten der Wähler zu erklären: weil derartige objektivierte Orientierungsprinzipien meist nur im überlokalen Raum vonnöten sind, im kollokalen Feld der Gemeinde hingegen durch mannigfache informelle Einflussprozesse, Bindungen und Rücksichtnahmen ausser Kraft gesetzt werden können, die eine bedeutend höhere Labilität der Wahlentscheidungen mit sich bringen (vgl. Jennings/Niemi 1966).

Dank ihrer unspezifischen Disponibilität für eine Vielfalt verschiedenartiger und unvorhersehbarer Aufgaben sind kollokale Systeme überall zur Absorption residualer, in den expliziten Erwartungs-, Rollen- und Organisationsstrukturen nicht berücksichtigter Problemfälle geeignet: indem sie auf jene nie völlig vermeidbaren Umweltereignisse oder systeminternen Störfälle reagieren, für die sich wegen ihres seltenen Auftretens oder ihres unberechenbaren und singulären Charakters ex ante keine Verfahrensregeln und Rollenstrukturen einrichten lassen.

So können zum Beispiel Nachbarschaftsbeziehungen als äusserst generalisierte "Reservepotentiale des Kollektivhandelns" angesehen werden, die - vor allem in modernen Gesellschaften - kaum mobilisiert werden müssen, solange die weiträumiger operierenden formalen Institutionen (Feuerwehr, Elektrizitätswerke, Polizei, Wasserversorgung, Spitalambulanzen u.a.) befriedigend funktionieren, und solange keine neuartigen Problemtypen auftreten, die den - immer spezifisch definierten - Zuständigkeitsbereich dieser Institutionen transzendieren.

Nur subsidiär, reaktiv und meistens transitorisch gewinnen nachbarschaftliche Solidaritätsnetzwerke an Bedeutung und Inhalt: z.B. wenn ein plötzlicher Stromausfall dazu zwingt, einander mit Streichhölzern oder Kerzen auszuhelfen, wenn Funkstille bei Massenmedien dazu nötigt, Neuigkeiten auf dem Wege kettenartig weitergereichter Gerüchte zu erfahren, oder wenn man wegen des Fehlens einschlägiger Dienstleistungsbetriebe keine andere Wahl hat, als die ferienbedingte Fremdbetreuung von Katzen, Papageien oder Gartenpflanzen vertrauenswürdigen Anwohnern zu überlassen.

Ebenso sind nachbarschaftliche Netzwerke horizontaler Sozialkontrolle vorwiegend als Reaktion auf die notorische Insuffizienz formell zuständiger Polizeiorgane zu verstehen (vgl. Hahn/Schubert/Siewert 1979:121), genauso wie quartierbezogene Bürgerinitiativen die Funktion haben, die defizitäre politische Artikulationsarbeit formaler Interessenverbände und Parteien zu substituieren (Guggenberger 1980: passim).

Umgekehrt gilt auch, dass Sozialsysteme umso stärker auf Kollokalität umstellen müssen, je mehr sie der Umwelt relativ einflusslos, defensiv und reaktiv gegenüberstehen: sei es, weil sie nicht über genügend externe Macht verfügen, um die Aufgaben, mit denen sie umgehen, selber auszuwählen oder gar autonom zu erzeugen; sei es, weil sie nicht wissen (können), auf welche zukünftigen Ereignisse und Problemsituationen sie sich vorzubereiten haben.

Je geringer die Kontrolle und/oder Voraussicht über Ereignisse in der Umwelt und/oder im Innern des Systems selbst, desto funktionaler ist es, sich ex ante auf ein unabsehbar breites Spektrum möglicher Problemfälle einzustellen und die kollektiven Handlungspotentiale in einem entsprechend "liquiden", permanent respezifizierbaren Zustand zu erhalten.

Dies ist aber nur möglich, wenn sich das soziale System

  1. den räumlichen Restriktionen unterwirft, wie sie aus dem Zwang zu permanenten kollokalen Rückkoppelungsbeziehungen zwischen den Mitgliedern entstehen,
  2. die zeitlichen Restriktionen hinnimmt, die daraus entstehen, dass jeder Adaptationsvorgang einen diachronen Prozess der strukturellen Spezifizierung erfordert: während formalisierte, auf antizipierte Ereignisse hin konzipierte Verfahrensweisen ohne Zeitverzug aktualisiert werden können (und sich deshalb besonders bei sehr dringlichen Problemfällen bewähren).
So beruhen die in Kontraststellung zum klassischen Bürokratiebegriff konzipierten, z.B. unter Bezeichnungen wie "organic management" (Burns/Stalker 1961) oder "feed back coordination" (Simon 1960) bekanntgewordenen Modelle "umweltoffener Organisation" allesamt auf der Vorstellung, dass es prinzipiell möglich (und unter Bedingungen hoher Variabilität und Ungewissheit sinnvoll oder gar unausweichlich sei), formale strukturelle Fixierungen als Medien der Verhaltensorientierung und Systemkoordination in den Hintergrund treten zu lassen und durch Prozesse interaktiver Abstimmung zu substituieren, aus denen sich dann jeweils eine der partikulären Problemkonstellation angepasste Organisationsform ergibt (vgl. Hickson 1966; Shortell 1977; Müller 1973; Lawrence/Lorsch 1967).

Die damit einhergehende Bindung an Kollokalität wird in einer komparativen empirischen Untersuchung von Van de Ven et al. deutlich, wo sich zeigt, dass die Binnenkoordination von Industriebetrieben umso stärker auf "Zusammenkünfte" und "Sitzungen" abgestützt werden muss, je mehr

  • in der Umwelt des Systems unvorhersehbare Ereignisse auftreten, weil über den Charakter und die Lösungswege der anfallenden Probleme hohe Ungewissheit ("task uncertainty") besteht;
  • in Inneren des Systems eine hohe wechselseitige Verflechtung der Arbeitsgänge ("work flow interdependence") dafür sorgt, dass unvorhersehbare, in den ex ante festgelegten Plänen und Regeln nicht berücksichtigte Koordinationsprobleme bewältigt werden müssen (Van de Ven/Delbecq/König 1976).
Allerdings bleibt auch in dieser Studie wie in den meisten anderen implizit, wie teuer solche Zugewinne an struktureller Flexibilität durch Adaptationsverluste ganz anderer Art bezahlt werden müssen: indem nämlich
  • die räumliche Reichweite der Systemaktivitäten schrumpft, weil sich die Mitglieder während eines grösseren Teils ihrer Arbeitszeit am selben Ort ihrer gemeinsamen Interaktion aufhalten müssen;
  • paradoxerweise auch die Offenheit für Aussenstimuli stark abnehmen kann: insofern die regen innenorientierten Interaktionsprozesse geeignet sind, die Aufmerksamkeit der Mitglieder voll zu absorbieren;
  • nur Problemumwelten tolerierbar sind, in denen die einzelnen Problemereignisse sequentiell aufeinander folgen und genug Anpassungszeit gewähren, um die aufwendigen systeminternen Kommunikations- und Entscheidungsfindungsprozesse unbehelligt stattfinden zu lassen.
Die permanent stattfindenden Strukturbildungs- und -umbildungsprozesse beanspruchen weniger Zeit und Mühe, wenn die Werte, Ziele, Normen und Verhaltenserwartungen, über die Verständigung angestrebt wird, nicht ex nihilo erzeugt werden müssen, sondern aus einem Reservoir präformierter Elemente ausgewählt und kombiniert werden können.

So beziehen die von Strauss et al. beschriebenen psychiatrischen Behandlungsteams ihre speditive Flexibilität aus dem Umstand, dass sie im Laufe ihrer Interaktionsgeschichte einen Überschussbestand an jederzeit abrufbaren Normen und Verhaltensregeln akkumuliert haben, von denen je nach den situativen Erfordernissen die einen aktualisiert werden und die andern in Latenz verharren:

"Für uns Beobachter war ebenfalls bemerkenswert, dass einmal in Geltung gesetzte Regeln alsbald wieder ignoriert oder vergessen wurden, um dann periodisch eine Art "administrative Wiederauferstehung" zu erfahren. 'Ich wünschte mir, dass sie alle irgendwann einmal aufgeschrieben würden', hat sich eine leitende Schwester ausgedrückt. Tatsache ist, dass die Mitarbeiter nicht nur die ihnen von vorgesetzter Stelle aufoktroyierten, sondern auch die von ihnen selbst in Kraft gesetzten Regeln nach kurzer Gebrauchszeit immer wieder vergessen, bis irgendeine Krisensituation deren Wiederbelebung erzwingt." (Strauss et al. 1964: 303).

Jede Institution verfügt deshalb in ihren kollokalen Subeinheiten einen reichen "variety pool" an (noch) nicht umfassend implementierten Alternativen, die in ihrer insulierten Nische ein schlummerndes, samenhaftes Dasein fristen. Auf der einen Seite erweist sich diese infrainstitutionelle Komplexität als Quelle bedrohlicher Störungen und Infragestellungen, denen gegenüber die vereinseitigen überlokalen Fixierungen immer wieder neu verteidigt werden müssen, auf der andern Seite aber als eine endogene Quelle der Befruchtung und Erneuerung, die der Institution dazu verhilft, irreversiblen inneren Erstarrungen zu entgehen und im Hinblick auf die Bewältigung neuer Umweltsituationen und Problemkonstellationen zusätzliche Adaptationsfähigkeiten zu erschliessen.

Auf strikte Integration und Konformität bedachte Institutionen wie Kirchen oder Armeen werden immer dazu neigen, diesen Variationsreichtum ihrer kollokalen Subsysteme (z.B. Pfarreien oder Regimenter) in engen Grenzen zu halten. Als Folge davon ist ihr endogenes Innovationspotential oft derart gering, dass Reformen von äusseren Stimuli her veranlasst werden müssen und völlig vom Willen der Führungsspitzen abhängig bleiben.

Im diametralen Gegensatz dazu beziehen innovationsorientierte Institutionen wie die Wissenschaft oder die private Marktwirtschaft ihre immense endogene Eigendynamik daraus, dass sie ihren kollokalen Subeinheiten (Forschungsteams, Betrieben u.a.) freie Entfaltungsspielräume und ungehinderte Kommunikationschancen gewähren.

Wie neuerdings wieder vermehrt erkannt wird, sind es auch in der Ökonomie häufig gerade nicht die weltumspannenden multinationalen Unternehmen, die sich im Zeitalter rasch wandelnder Technologien und Marktbedürfnisse als Hauptquelle kreativer Adaptation erweisen, sondern räumlich verdichtete Netzwerke interorganisationeller Kooperation. Die Seidenindustrie um Lyon, das Stoffdruckgewerbe im Elsass oder die italienische Textilproduktion um Prato sind Beispiele solcher regionaler Produktionssysteme, denen es dank flexibler Solidarität und Kooperation zwischen Unternehmern, Financiers, Technikern, Handwerkern u.a. gelingt, in rascher Folge zu immer wieder neuen Technologien, Organisationsformen und Produktangeboten überzuwechseln und damit die internationale Konkurrenzfähigkeit zu wahren (vgl. Piore/Sabel 1984: passim).

Im heutigen Zeitalter komplexester Hochtechnologien (z.B. der Mikroelektronik) kommt der Bedarf nach kollokalen Interaktionszentren hinzu, die dem regen Meinungsaustausch zwischen Wissenschaftlern, Technikern und Unternehmern dienen und sich häufig um bereits bestehende Hochschulinstitutionen kristallisieren:

"Wichtiger ist allerdings noch, dass die Universitäten als organisierende Zentren der intellektuellen Gemeinschaft für die Beschäftigung dieser Industrie gedient haben. Hier können Ingenieure und Wissenschaftler, die in verschiedenen, miteinander konkurrierenden Unternehmen tätig sind, Ideen austauschen, um Beratung nachsuchen und sich wechselseitig wegen der Kreativität und Eleganz ihrer Innovationen respektieren lernen. Darin ist der Campus der Universität mit jenen Cafés vergleichbar, in denen italienische Handwerker sich gegenseitig Probleme lösen helfen, gemeinsame Ideen entwickeln - oder sie einander stehlen: ein Ort, an den Proudhon wahrscheinlich Marx geführt hätte, um ihm zu zeigen, wo Wettbewerb und Konkurrenz einander begegnen." (Piore/Sabel 1984: 326).

Nach Ansicht der genannten beiden Autoren war die bisherige spektakuläre Gewichtsverlagerung der ökonomischen Produktion auf weltweit tätige Grosskonzerne an eine ganz bestimmte, jetzt zu Ende gehende historische Phase gebunden, in der es vorrangig darum ging, die Bedürfnisse nach billigen, standardisierten Massengütern zu befriedigen und zu diesem Zweck aus den Effizienzvorteilen stark formalisierter Organisationsstrukturen und stark mechanisierter Produktionsanlagen Nutzen zu ziehen. Heute hingegen würde sich der Schwerpunkt ökonomischer Leistungskraft wieder stärker auf raumverdichtete "Industriedistrikte" hin verlagern: weil nur solch verdichtete kollokale Kooperationsstrukturen in der Lage seien, die wachsende Nachfrage nach individuell geprägten Konsumgütern und singulären Produktionsanlagen zu befriedigen, und nicht zuletzt: um durch flexible Innovativität immer wieder neue Wachstumsnischen zu erschliessen (Piore/Sabel 1984: passim).
 
 

V

Abschliessend sei noch auf die tiefgreifende methodologische Problematik hingewiesen, die sich aus der mangelhaften Fixiertheit und Objektiviertheit der systemischen Strukturmerkmale, Wertorientierungen, Zielsetzungen usw. ergibt. Denn weil kollokale Systeme einen so geringen "Eigenbedarf" an Explizierung, und an übersubjektiver Fixierung ihrer Systemparameter besitzen, werden die normalerweise auch keine präzisen Selbstbeschreibungen von sich anfertigen, die für alle Teilnehmer unabhängig von deren subjektiver Perspektive verbindlich wären.

Dementsprechend können sich auch die Beobachter von Kollokalsystemen (z.B. Soziologen) nicht auf bereits vorgefertigte, übersubjektiv gültige Systembeschreibungen abstützen, wie sie beispielsweise bei Verwandtschaftsordnungen oder formalen Organisationen üblich sind.

Stattdessen treffen solch externe Beobachter auf den Zustand, dass

  1. jeder Teilnehmer seine eigene perspektivische "Sicht der Dinge" aufrechterhält und sie selber deshalb nichts anderes tun können, als (z.B. im Verlaufe teilnehmender Beobachtung) zu dieser Mannigfaltigkeit koexistierender Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen eine eigene hinzuzufügen;
  2. die Teilnehmer den Systemzustand selber als fluide und zeitlich wandelbar beschreiben und die Beobachter deshalb genötigt sind, ihre Wahrnehmungen (und die daraus entzogenen induktiven Generalisierungen) entsprechend zu relativieren.
Während der Erforscher hoch formalisierter Organisationen oder Institutionen oft grosse Mühe hat, sich der Suggestivität der vom System autonom erzeugten (oft idealisierten und für die vorteilhafte Aussendarstellung hergerichteten) Selbstbeschreibungen zu entziehen, so trifft der an kollokalen Gruppen interessierte Sozialwissenschaftler oft auf das entgegengesetzte Problem, dass die Akteure sich weigern, seinem Streben nach theoretischer Konzeptualisierung durch eine begriffliche Analyse ihres Sozialsystems entgegenzukommen:

"Die Kommune wird im allgemeinen nicht als ein Gebilde gesehen, das eine über die interpersonellen Beziehungen, die in ihm enthalten sind, hinausgehende soziale Realität besitzt. Diese Beziehungen aber wandeln sich mit der Ankunft jeder zusätzlichen Person, inkl. des soziologischen Beobachters. Die Kommune beschreiben heisst deshalb: unweigerlich: die Kommune reifizieren und verfälschen: besteht" sie doch aus nichts anderem als aus einer Summe erlebter Realitätserfahrungen, die man nur erzählend nachvollziehen, niemals aber analysieren kann." (Abrams/McCulloch 1976: 10).

So sieht sich der Beobachter kollokaler Sozialsysteme in einer dem Naturwissenschaftler vergleichbaren Lage: dass er nämlich seine eigenen analytischen Konzepte und Theorien an das Objekt herantragen muss, weil dieses sich selber nicht in derartigen Termini thematisiert und auch nicht in der Lage (bzw. nicht willens) ist, eine ihm angebotene Fremdbeschreibung nachträglich als Selbstbeschreibung zu assimilieren.

Anders als beim Naturforscher besteht sein "Rohmaterial" allerdings nicht aus faktischen Zuständen und Ereignissen, die sich dem objektivierenden Zugriff relativ zwanglos fügen, sondern aus dem in den interpersonellen Kommunikationsprozessen erscheinenden "intersubjektiven Sinn", der in den übersubjektiven Begriffen und Theorien der Sozialwissenschaft eine immer nur unzulängliche Abbildung findet.


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Prof. Hans Geser
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